Neue Erkenntnisse zeigen, wie tief Politik und Justiz in die Ermordung der linken Stadträtin und ihres Fahrers verstrickt sind.

Sechs Jahre und zehn Tage nach dem Verbrechen, das Brasilien und die Welt am 14. März 2018 schockierte, wurden in Rio de Janeiro drei Hauptverdächtige, die den Mord an der Stadträtin und Aktivistin Marielle Franco und ihrem Fahrer Anderson Gomes angeordnet haben sollen, vorläufig festgenommen. Die Verhaftungen im Rahmen der Operation „Murder Inc.“ offenbaren die tiefe Ver­strickung der Polizei in Rio de Janeiro mit Milizen und organisierter Kriminalität.

Von Luciana Haussen (Übersetzung: Julia Ganter)

Als Hauptverdächtige wurden die Brüder Chiquinho Brazão, Abgeordneter des Bundestaates Rio de Janeiro, und Domingos Brazão, Mitglied des Rechnungshofes von Rio de Janeiro, sowie Rivaldo Barbosa, ehemaliger Chef der Zivilpolizei des Bundes­staats und früherer Universitätsprofessor, von der brasilianischen Bundespolizei festgenommen und in verschiedene Gefängnisse in Brasilien gebracht. Die Operation mit dem Namen „Murder Inc.“ – in Anlehnung an die Mörderbande der New Yorker Mafia in den 1930er Jahren – ist eine gemeinsame Aktion der Bundespolizei, der Generalstaatsanwaltschaft und der Staatsanwaltschaft von Rio de Janeiro. Am Tag der Verhaftungen wurden in der Stadt zudem zwölf Durchsuchungsbeschlüsse vollstreckt, während die Ermittlungen zur Gründung einer kriminellen Vereinigung und die Behinderung der Justiz andauern.

Die Namen der drei Festgenommenen wurden in der Kronzeugenaussage des Täters, des ehemaligen Militärpolizisten Ronnie Lessa, genannt. Lessa schoss 13-mal auf das Auto, in dem Marielle Franco und Anderson Gomes im März 2018 saßen. Seine Aussage als Kronzeuge wurde auch vom Obersten Bundesgericht bestätigt.

Die Brüder Brazão, die in den letzten 20 Jahren verschiedene politische Ämter innehatten, haben ihre Wähler*innenbasis in der Region Jacarepaguá, die als Milizen-Hochburg bekannt ist. Bisher gelten Immobilienstreitigkeiten in dieser Region als Hauptmotiv für das Verbrechen. Zum Tatzeitpunkt setzte sich Marielle Franco zusammen mit den lokalen Gemeinden aktiv gegen diese ein.

Nach seiner Verhaftung wurde Chiquinho Brazão, der im Laufe der Jahre mehrfach die Partei gewechselt hatte, aus der konservativen Partei União Brasil ausgeschlossen. Als Bundesabgeordneter genießt er parlamentarische Immunität und seine Inhaftierung muss von der Abgeordnetenkammer in Brasília genehmigt werden. Dazu bedarf es einer absoluten Mehrheit, also mindestens 257 Stimmen der 513 Bundesabgeordneten. Die Abstimmung, welche sich bereits verzögert hat, soll im April stattfinden.
Sein Bruder Domingos Brazão ist seit den 1990er Jahren ebenfalls in der Politik tätig und war im Laufe der Jahre in mehrere Kontroversen verwickelt. Schätzungen der Bundespolizei zufolge ist sein persönliches Vermögen seit 2004 um mehr als 2.000 Prozent gewachsen.

„Es fehlt noch viel, damit wir Frieden finden”

Rivaldo Barbosa wird der Verschleierung von Beweisen und der Behinderung der Ermittlungen beschuldigt. Er wurde einen Tag vor dem Mord zum Chef der Zivilpolizei ernannt. Es wird vermutet, dass er den Posten antrat, wohlwissend, dass das Verbrechen geplant war. Ein Jahr später trat er von seinem Posten zurück, blieb aber bis 2003 bei der Zivilpolizei. Seine Verhaftung überraschte die Familien der Opfer am meisten. „Ich muss gestehen, dass mich der Name Rivaldo Barbosa am meisten schockiert hat. Vor allem, weil ich mich daran erinnere, dass Rivaldo uns (die Familienangehörigen, Anm. d. Autorin) einige Tage später (nach dem Mord, Anm. d. Autorin) in seinem Büro empfangen hat, um uns zu sagen, dass der Fall Priorität bei der Aufklärung haben würde. Das Auftauchen seines Namens machte mir klar, dass ich wenige Stunden nach dem Mord an meiner Frau tatsächlich dem Mann gegenüberstand, der genau wusste, was geschehen war. Und dass er mehr noch, Teil dieses Befehls war und direkt dazu beigetragen hat, dass das Verbrechen in der Nacht des 14. März genau so geschehen ist“, äußerte sich Monica Benicio, die Witwe von Marielle Franco, am Tag der Verhaftungen auf einer Pressekonferenz. Die Witwe von Anderson Gomes, Agatha Arnaus, unterstrich die Aussagen: „Zu sehen, dass diejenigen, die den Befehl (zum Mord, Anm. d. Autorin) gaben, uns umarmten und küssten und sogar versprachen, dass sie Freunde seien. Das ist ein Schlag ins Gesicht. Aber es fehlt noch viel mehr. Es waren nicht nur die drei. Es ist eine Erleichterung, aber es fehlt noch viel, damit wir Frieden finden.“

Giniton Lages, der das Amt des Polizeikommissars innehatte, als der Todesschütze Ronnie Lessa festgenommen wurde, und sein Mitarbeiter, Marco Antônio de Barros Pinto, stehen unter Hausarrest und tragen bereits elektronische Fußfesseln. Eine weitere Person, gegen die im Rahmen der Operation „Murder Inc.“ ermittelt wird, ist Rivaldo Barbosas Ehefrau Érika Araújo. Sie wird der Geldwäsche hoher Summen beschuldigt, die ihr Mann illegal erhalten haben soll, um die Aufklärung der Morde zu verzögern. Gegen weitere Personen aus dem Umfeld der drei Hauptver­dächtigen wird ebenfalls ermittelt.

Nach den Verhaftungen ordnete der Berichterstatter des Falles am Obersten Gerichtshof, Minister Alexandre de Moraes, die Übermittlung des Verfahrens an die Generalstaatsanwaltschaft an. Dieser obliegt es zu entscheiden, ob Anklagen gegen die Brüder Brazão und Barbosa erhoben werden sollen oder nicht.

Foto: Daniel Arrhakis via Flickr (CC BY-NC 2.0 Deed)

Zum Fall Marielle Franco

Am 14. März 2018 wurde Marielle Franco im Norden von Rio de Janeiro brutal in ihrem Auto ermordet. Von den 13 abgefeuerten Schüssen trafen vier Marielle in den Kopf und drei den Fahrer Anderson Gomes in den Rücken. Auch er starb. Marielle Franco, geboren und aufgewachsen in der Favela Maré, war bisexuelle Schwarze Menschenrechtsaktivistin, Soziologin und Stadträtin der linken Partei PSOL. Sie setzte sich unermüdlich für LGBTQIA+-Bewegungen, feministische Gruppen, Favela-Gemeinschaften und Minderheiten ein. Im Jahr 2016 wurde sie mit 46.502 Stimmen zur fünftbeliebtesten Stadträtin von Rio de Janeiro gewählt und war dort unter den 51 Stadträt*innen eine von sieben Frauen und die einzige Schwarze. Sie galt als aufstrebende Politikerin des Landes.

 

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