Ende Mai sollen das Pandemieabkommen und neue Internationale Gesundheitsvorschriften verabschiedet werden. Doch schon die Definitionen werfen Fragen auf.

Wird die Welt bald aus Genf regiert? Glaubt man manchen aktuellen Kommentaren und Petitionen, wird die Weltgesundheitsversammlung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) Ende Mai mit der Verabschiedung des Pandemieabkommens und der Reform der Internationalen Gesundheitsvorschriften (IGV) den Generaldirektor der WHO zu einer Art Weltdiktator ernennen, der nach Gutdünken eine Pandemie ausrufen kann und die Völker der Welt in den Lockdown schicken oder zur Impfung verpflichten kann.

Glaubt man den Fürsprechern des Pandemieabkommens, handelt es sich hingegen um eine so harmlose wie überfällige Initiative, um in globaler Zusammenarbeit künftige Pandemien zu verhindern und Millionen von Leben zu retten. Obwohl in verschiedenen Punkten noch keine Einigung erzielt wurde, drängen sie auf einen schnellen Abschluss, da sonst, so Karl Lauterbach, die Gefahr bestünde, „dass wir das Momentum der Pandemie verlieren“.

Wer heute von „der Pandemie“ spricht, meint Corona. Wir denken an Bilder von geschlossenen Geschäften, abgesperrten Spielplätzen und maskierten Gesichtern. Aber wer erinnert sich heute noch an die Schweinegrippe 2009? Auch diese war für die WHO eine Pandemie. Das Pandemieabkommen ist nur das prominenteste Beispiel für Bemühungen, das Arbeitsfeld der Pandemieprävention, -vorsorge und -bekämpfung (auf Englisch: pandemic prevention, preparedness, and response, PPPR) als eigenständige Säule der globalen Gesundheitsarchitektur zu etablieren.

Eine gemeinsame Analyse der WHO und der Weltbank im Auftrag der G20 identifizierte einen Finanzierungsbedarf von jährlichen 31 Milliarden US-Dollar für PPPR in Ländern mittleren und niedrigen Einkommens. Das entspräche dem achtfachen des jährlichen Budgets der WHO.

Diese Investitionen sollen unter anderem in Frühwarnsysteme fließen, die neue Erreger schneller feststellen. Dadurch soll die Entwicklung von Impfstoffen und Therapeutika ermöglicht werden, bevor sich ein neues Virus seinen Weg um die Welt bahnt. So kreisen auch die laufenden Verhandlungen über das Pandemieabkommen in Genf vor allem um Fragen der Verteilung „pandemiebezogener Produkte“. Das Pandemieabkommen kann also nicht zuletzt als Investitionsprogramm verstanden werden. Im neuesten Entwurf, den die WHO am 13. März veröffentlichte, wurde jedoch ein bemerkenswerter Artikel ergänzt:

„Nichts im WHO-Pandemieabkommen ist so auszulegen, dass es das Sekretariat der WHO, einschließlich des Generaldirektors, befugt, innerstaatliche Rechtsvorschriften oder politische Maßnahmen einer Vertragspartei zu lenken, anzuordnen, zu verändern oder anderweitig vorzuschreiben oder einer Vertragspartei sonst wie aufzuerlegen oder von dieser zu fordern, bestimmte Maßnahmen zu ergreifen wie z.B. Reisende zu akzeptieren oder abzuweisen, die Auferlegung von Impfvorschriften oder therapeutischen oder diagnostischen Maßnahmen oder Lockdowns.“ (Zitate sind Übersetzungen des Autors, Anm. d. Red.)

Was ist eine „gesundheitliche Notlage internationaler Tragweite“?

Offensichtlich betreibt die WHO hier das von ihr ausgerufene „Infodemie-Management“, also eine aktive Auseinandersetzung mit vermeintlichen Falschinformationen. Man könnte auch sagen, dass hier eine Nebelkerze gezündet wird, denn selbst der misstrauischste Leser kann im Entwurf des Pandemieabkommens nichts finden, das die Interpretationen erlauben würde, die die WHO ausschließt.

Vorgeschlagene Änderungen der Internationalen Gesundheitsvorschriften (IGV) hingegen würden dem Generaldirektor der WHO erlauben, im Falle einer von ihm festgestellten „gesundheitlichen Notlage internationaler Tragweite“ (auf Englisch: Public Health Emergency of International Concern, PHEIC) Mitgliedstaaten „Empfehlungen“ auszusprechen, zu deren Befolgung sich diese ausdrücklich verpflichten, womit sie faktisch zu völkerrechtlich verbindlichen Anordnungen würden. Dies erklärt Dr. Amrei Müller in ihrer lesenswerten Analyse „Besorgniserregende Verhandlungen von internationaler Tragweite“.

Im Gegensatz zur Pandemie ist die „gesundheitliche Notlage internationaler Tragweite“ seit 2005 in den Internationalen Gesundheitsvorschriften (IGV) definiert als „ein außergewöhnliches Ereignis, das bestimmt ist, durch internationale Krankheitsübertragung ein Risiko für die öffentliche Gesundheit anderer Staaten darzustellen und potenziell eine koordinierte internationale Antwort zu erfordern“.

Die IGV verpflichten die Mitgliedstaaten, die WHO über potenzielle „gesundheitliche Notlagen internationaler Tragweite“ zu informieren. Diese beruft ein Notfallkomitee, das über die Ausrufung und Beendigung einer solchen Notlage berät, sowie über Handlungsempfehlungen, die die WHO betroffenen Staaten ausspricht. Die Entscheidungsgewalt liegt dabei jedoch allein beim Generaldirektor. Diese Empfehlungen können bereits unter den aktuell gültigen IGV u.a. ausdrücklich Reisebeschränkungen, die Quarantäne von Verdachtspersonen oder das Verlangen von Impfnachweisen umfassen.

Dabei zeigen jüngere Veröffentlichungen, dass die WHO seit der Corona-Pandemie solchen von ihr sogenannten öffentlichen Gesundheits- und Sozialmaßnahmen (auf Englisch: Public Health and Social Measures, PHSM) große Bedeutung beimisst. So wurde in den Benchmarks, die messen, ob Mitgliedstaaten die Anforderungen der IGV erfüllen, im Januar dieses Jahres erstmals ein Benchmark zur Umsetzung von PHSM aufgenommen.

Diese reichen demzufolge von „Überwachung, Kontaktnachverfolgung, Maskentragen und Distanzhalten bis zu sozialen Maßnahmen wie Massenversammlungen zu beschränken und Schul- und Geschäftsöffnungen und -schließungen“. An Grenzübergängen sollen Staaten zudem „Isolationseinheiten schaffen, um menschliche und tierische Verdachtsfälle übertragbarer Krankheiten unter Quarantäne zu stellen“.

Dabei bezeichnete das WHO-Handbuch „Epidemien managen“ („Managing Epidemics“) noch 2018 Quarantäne als „für viele heutige Gesellschaften inakzeptabel“ und Maskentragen sogar kranker Menschen als „extreme Maßnahme“. Das zeigt eine Normalisierung der Corona-Maßnahmen als Blaupause für den nächsten Gesundheitsnotstand.

Die vorgeschlagenen Änderungen der IGV (insb. Artikel 13A) könnten Staaten zur Umsetzung solcher Maßnahmen verpflichten. Bei alldem ist wichtig zu bedenken, dass die meisten „gesundheitlichen Notlagen internationaler Tragweite“ keine Pandemien sind. Alleine in den letzten zehn Jahren hat die WHO sechs solcher Notlagen ausgerufen (Polio, zweimal Ebola, Zika, Corona und Affenpocken). Aber nur Corona wurde auch zur Pandemie erklärt.

Heikle Definitionsfragen

Doch was sind eigentlich Pandemien? In einem Entwurf des Pandemieabkommens hieß es, eine Pandemie sei „die globale Ausbreitung eines Krankheitserregers oder einer Variante, der oder die menschliche Bevölkerungen mit beschränkter oder keiner Immunität durch anhaltende und hohe Übertragbarkeit von Mensch zu Mensch infiziert, Gesundheitssysteme mit schwerer Krankheit und Sterblichkeit überlastet und soziale und ökonomische Störungen verursacht, was alles eine effektive nationale und globale Zusammenarbeit und Kooperation für seine oder ihre Kontrolle verlangt“.

Der jüngste Entwurf des Abkommens, veröffentlicht im März 2024, hat diese Definition ersatzlos gestrichen. Stattdessen ist nur ein „Erreger pandemischen Potenzials“ definiert. Das ist „jeder Erreger, der Menschen infiziert und der neu (noch nicht charakterisiert) oder bekannt (inkl. Varianten bekannter Erreger) und potenziell hoch übertragbar und/oder virulent ist, der das Potenzial hat, eine gesundheitliche Notlage internationaler Tragweite auszulösen“.

Der jüngste Entwurf soll offenbar das Abkommen mit den IGV harmonisieren, droht jedoch, das Pandemieabkommen zu einem Abkommen über jeden Erreger zu machen, der „das Potenzial hat“, ein internationales Gesundheitsrisiko darzustellen. Es ist nicht verwunderlich, dass mancher hier ein Missbrauchspotenzial sieht. Es ist zudem erstaunlich, wie diejenigen, die Milliarden für die Bekämpfung von Pandemien sammeln, keine klare Vorstellung zu haben scheinen, was eine Pandemie überhaupt ist.

Vor 2020 war die Spanische Grippe von 1918 prägend für den Pandemiebegriff. Pandemiepläne der WHO ab 1999 und der Bundesrepublik ab 2016 befassten sich ausschließlich mit Influenza. Als die WHO 2009 erklärte, die sogenannte Schweinegrippe sei in die pandemische Phase eingetreten, löste das eine Kontroverse hinsichtlich der Frage aus, ob eine Pandemie schwerwiegend sein müsse.

Kurz vor der Pandemieerklärung änderte die WHO damals eine Definition auf ihrer Website. Wo die vorige Definition eine „enorme Zahl von Toten“ zur Bedingung für eine Pandemie machte, stellte die neue Version fest, dass Pandemien nicht schwerwiegend sein müssen. Obwohl die Änderung keinen praktischen Effekt hatte, löste ihr Zeitpunkt Argwohn aus. Kritiker wie Wolfgang Wodarg verwiesen auf den Einfluss der Pharmaindustrie, die Milliarden an durch die Pandemieerklärung veranlassten Impfstoffbestellungen verdienten.

Das Europäische Parlament verabschiedete 2011 eine Resolution zur Schweinegrippe, in der es heißt, das Parlament „legt der WHO dringend nahe, die Definition von Pandemie dahingehend zu überprüfen, dass neben dem Kriterium ihrer geografischen Ausbreitung auch das ihrer Gefährlichkeit berücksichtigt wird“. Zwar sind auch die Grippepandemien von 1957 und 1968 nicht als besonders tödlich in Erinnerung, andererseits fußt das Konzept der Pandemievorsorge auf einem Verständnis von Pandemien als außergewöhnlichen Ereignissen, die eine besondere Vorbereitung erfordern.

Gleichwohl könnte es sinnvoll sein, Pandemievorsorge umzudenken. Schließlich hängen die lokalen Auswirkungen einer Krankheit nicht von ihrer globalen Verbreitung ab. Der Globale Fonds zur Bekämpfung von HIV, Tuberkulose und Malaria, eine einflussreiche öffentlich-private Partnerschaft, beschreibt diese drei Krankheiten als Pandemien, die nur deshalb gemeinhin nicht so genannt würden, weil sie reiche Länder weniger betreffen. Damit eine Krankheit weltweit als Pandemie wahrgenommen wird, muss sie auch Menschen in Genf oder Berlin befallen.

In Deutschland waren zwei Drittel der Corona-Toten über 80 und 95 Prozent über 60. In Afrika umfasst diese Risikogruppe nur einen Bruchteil der Bevölkerung, jeder zweite ist unter 18. Offensichtlich müssen in beiden Kontexten völlig andere Prioritäten gesetzt werden. Gelder der globalen Gesundheitszusammenarbeit in die Bekämpfung hypothetischer Pandemien umzuleiten und Entscheidungsmacht in Genf zu zentralisieren, birgt die Gefahr, dass gerade die Ärmsten benachteiligt werden. Es wäre nicht das erste Mal.

Update 24.04.2024: Inzwischen liegt ein neuer Entwurf zur Reform der Internationalen Gesundheitsvorschriften vor, datiert auf den 17. April 2024. Auch in diesem Entwurf ist nicht klar geregelt, welche Rolle die Gefährlichkeit oder Tödlichkeit einer Krankheit für ihre Definition als Pandemie spielt. Allerdings sind im neuen Entwurf die Empfehlungen, die die WHO bzw. der Generaldirektor im Falle einer gesundheitlichen Notlage internationaler Tragweite ausspricht, nicht mehr verpflichtend. Diesem Entwurf zufolge müssten die Staaten die Empfehlungen der WHO also nicht befolgen. Ob die WHO bis zur Abstimmung Ende Mai nochmals geänderte Entwürfe vorlegen wird, ist derzeit nicht bekannt.

Jean Merlin von Agris ist Doktorand an der Universität Leeds und forscht im Projekt „Re-Evaluating the Pandemic Preparedness And REsponse Agenda“ (REPPARE) zur internationalen Pandemiepolitik.

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