Eva Seck für die Onlinezeitung Infosperber

Lisa Gerigs Film über Asylanhörungen in der Schweiz wird an den Solothurner Filmtagen gezeigt. Warum er uns alle etwas angeht.

In ihrem feinfühligen Film «Die Anhörung» stellt die Schweizer Regisseurin Lisa Gerig nicht-öffentliche Asylanhörungen nach. Das intime Setting ist fiktional, aber alle Beteiligten erzählen ihre reale Lebensgeschichte. Die vier Porträtierten sind entweder vor Folter, vor moderner Sklaverei, vor politischer Verfolgung oder wegen ihrer Transidentität geflohen, gegen die in ihrem Herkunftsland gehetzt wird. Es sind harte Schicksale; umso berührender ist, mit welcher Stärke und Verletzlichkeit sich die vier dem Verfahren noch einmal stellen. Ebenfalls im Zentrum stehen jene Menschen, welche die Anhörungen leiten. Dies sind Mitarbeitende und ehemalige Mitarbeitende des Staatssekretariats für Migration, die sich auf dieses filmische Experiment eingelassen haben. Man merkt ihnen an, wie sie mit der Verantwortung, über die zukünftigen Leben der Geflüchteten zu entscheiden, ringen. Sie machen aber auch deutlich, dass sie einen Auftrag erfüllen, den Auftrag des Staates, der Gesellschaft. Der Film und die eindringlichen Erzählungen der Geflüchteten zeigen auf, dass wir selbst jene Menschen, die hochgradig traumatisiert sind, mit ihren Schicksalen allein lassen in einem Prozess, der über ein Leben in Würde oder über ein Leben in Angst und Schrecken entscheidet. Die Frau aus Indien beschreibt, was ihr während der Anhörung beständig durch den Kopf ging: «I know for the fact, this person has the power. This person do have the power to decide. And they get paid for that. So, they do their job. For them it’s a job, for me it’s a life».

(K)eine Weihnachtsgeschichte

Kurz vor Weihnachten wurde das Asylsystem der Europäischen Union reformiert. An den EU-Aussengrenzen sollen demnach Schnellverfahren für Geflüchtete aus Ländern mit einer niedrigen Chance auf Asyl durchgeführt werden. Die Asylsuchenden werden bei negativem Bescheid unter haftähnlichen Bedingungen festgehalten. Von dort aus sollen sie dann innert weniger Monate in ihre Herkunftsländer abgeschoben werden. Abschieben, was für ein hässliches Wort. Wie Unrat, den man in eine Ecke oder vom Tisch herunter schiebt, um ihn endgültig zu entsorgen. Kurz vor Weihnachten also fiel diese Entscheidung, kurz bevor die Menschen – auch in unserem Land – an Heiligabend ergriffen der Geschichte einer Familie auf Herbergssuche lauschten und sich danach Geschenke schenkten, wie man sie sich in einer Überflussgesellschaft eben schenkt. Wir dachten dabei nicht an die giftigen Abfallberge, die sich in Südostasien meterhoch türmen oder woher die Rohstoffe des neuen Handys eigentlich kommen. In seiner soeben erschienenen Globalgeschichte des Mülls konstatiert der Historiker Roman Köster: «Müll ist nichts, was sich wohlhabende Gesellschaften leisten. Müll ist vielmehr eine Nebenfolge davon, warum Gesellschaften wohlhabend sind.»

Globalisierungsparadox

Toni Morrison schrieb in ihrem Essay «Die Heimat des Fremden» (dt. 2017): «Im engeren Sinn meint Globalisierung ungehinderte Kapital- und Datenflüsse und ebensolchen weltweiten Warenverkehr in einem von politischen Einflüssen freien Rahmen, der von den Bedürfnissen multinationaler Konzerne gesetzt wird.» Wir wollen also, dass Waren, Rohstoffe und Finanzströme über Kontinente und Staaten hinweg fliessen und zu unserem Profit bestbewachte Grenzen passieren dürfen. Wir wollen unsere Abfälle in die Länder des globalen Südens «auslagern» und nicht auf die seltenen Erden aus deren Minen verzichten. Gleichzeitig wollen wir keinesfalls, dass Menschen, die aus ebenjenen Ländern stammen, auch wenn sie vor Armut, Hunger, Krieg und Konflikten fliehen oder wegen der Folgen des Klimawandels in ihrer Heimat nicht mehr leben können, ihre Reise nach Europa antreten. Reise klingt in diesem Zusammenhang natürlich beschönigend. Es sind Fluchtgeschichten, die oft genug mit dem Tod in einer Wüste oder im Mittelmeer enden (allein in den letzten zehn Jahren sind 26’000 Menschen auf der Flucht übers Mittelmeer ertrunken). Oder erstickt im Container irgendeines Lastwagens.

Wider die Verhärtung und die bürgerliche Kälte

Diese Menschen, sie kommen, weil sie müssen, nicht weil sie es unbedingt wollen. Und sie werden es trotz der verschärften Asylgesetze weiter tun, weil sie für sich und ihre Kinder ein lebenswertes Leben wünschen; das ist ein Menschenrecht. Vergessen wir derweil nicht, dass global die allermeisten der Geflüchteten Binnenvertriebene sind oder in ihre direkten Nachbarländer fliehen und dass laut UNO 40 Prozent aller Geflüchteten Kinder sind. Ankommende sollten ausschliesslich dahingehend kontrolliert werden, ob sie eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit darstellen. Denn auch wenn es uns einige Politiker und Parteien und gewisse Leitmedien glauben lassen wollen: Die Migration hat nicht Schuld an allem, und wir haben es in der Hand, wie wir künftig global, aber auch hier in der Schweiz zusammenleben wollen. Dafür haben wir eine (historische) Mitverantwortung. Es braucht Engagement, ja, und dann könnte es, trotz aller furchterregenden Voraussagungen, gut werden. Nicht umsonst wird die Schweiz als «einig in der Vielfalt» bezeichnet. Wir könnten beispielhaft vorangehen und mit einer humaneren und progressiveren Einwanderungspolitik dort inspirieren, wo europäische Länder ins Nationalistische abdriften. Wir könnten gegen Verhärtung und gegen die «Bürgerliche Kälte» ankämpfen, wie es die Philosophin Henrike Kohpeiss in ihrem Buch mit diesem Titel formuliert.

Unsere Zukunft gestalten

In wenigen Jahren gehen die Babyboomer in Rente. Wir werden Arbeitskräfte brauchen, die unsere überalternde Gesellschaft dereinst pflegen werden, unsere Altersvorsorge finanzieren und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ermöglichen. Die Schweiz wird Fachkräfte für erneuerbare Energien brauchen aber auch Menschen, die Gemüse ernten. Sie wird Bauarbeiter, Handwerkerinnen, Pflege- und Lehrkräfte brauchen, wie auch Menschen, die den Müll entsorgen, Servicekräfte und Kitabetreuungspersonal. Kurz, wir brauchen Menschen, die unser Land am Laufen und unseren Wohlstand (er)halten. Nicht nur materiellen Wohlstand, sondern auch fürsorgenden, denn vom ersten haben die meisten von uns schon ziemlich viel. Warum wollen wir nicht Zukunft gestalten und uns fragen, wie wir Menschen, die zu uns kommen, helfen, hier Fuss zu fassen? Sich zu integrieren, die Sprache zu lernen, immer mit dem Ziel, dass sie Teil dieser Gesellschaft werden. Damit sie sich nicht unter Todesgefahr auf Fluchtrouten begeben müssen, nur um dann unter «haftähnlichen Bedingungen» oder in menschenunwürdigen Flüchtlingslagern an den Rändern Europas alle Hoffnung zu verlieren.

Berührbar bleiben

Der Film von Lisa Gerig erinnert uns daran, dass es sich bei Geflüchteten um Menschen handelt, und nicht um blosse Zahlen. Die Migration im 21. Jahrhundert wird sowohl eine menschliche wie auch eine Menschheitsaufgabe sein. Wir sind für viele der Fluchtursachen mitverantwortlich; unser Hunger nach billigen Arbeitskräften, nach billigen Rohstoffen, die Profitgier unserer Konzerne und die krasse Ausbeutung unserer Um- bzw. Mitwelt zwingt Menschen dazu ihre Heimat zu verlassen. Aber auch Gewalt, die Menschen oder Regierungen anderen Menschen antun, lässt Leute verzweifelt fliehen. Und darüber hinaus sollten wir uns immer ins Gedächtnis rufen, dass geschlossene Grenzen nicht nur für jene, die von ausserhalb kommen, potenziell tödlich sind, sondern auch unsere Gesellschaften im Innern verändern. Die unerträgliche Gewalt, die wir an diesen Aussengrenzen ausüben, führt zu einer schleichenden Verrohung in uns selbst. Sie befeuert Hass und Ressentiments und lässt uns gegenüber fremdenfeindlicher Rhetorik und tatsächlicher Brutalität abstumpfen. Ein Film wie «Die Anhörung» lässt Ambivalenzen, Zwischentöne und Hinwendung zu. Er ermöglicht den Zuschauenden, sich in die heikle Anhörungssituation hineinzuversetzen, und lädt uns dazu ein, als Menschen berührbar zu bleiben.

Der Film «Die Anhörung» läuft ab dem 25. Januar in den Schweizer Kinos.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Eva Seck (*1985 in Rheinfelden) ist freischaffende Autorin. Im Frühling 2022 erschien ihr zweiter Gedichtband «versickerungen» im Verlag die brotsuppe. Sie bewundert Frauen*, die sich journalistisch, künstlerisch oder forschend mit dem kolonialen Erbe Europas auseinandersetzen. Eva Seck lebt mit ihrer Familie in Basel.
Unter «kontertext» schreibt eine externe Gruppe von Autorinnen und Autoren. Sie greift Beiträge aus Medien auf, widerspricht aus journalistischen oder sprachlichen Gründen und reflektiert Diskurse der Politik und der Kultur. Zurzeit schreiben regelmässig Silvia Henke, Mathias Knauer, Michel Mettler, Felix Schneider und Beat Sterchi.

Der Originalartikel kann hier besucht werden