Die Technik der künstlichen Intelligenz läutet die dritte Stufe der Menschheitsgeschichte ein. Sie beeinflusst Sinne und Verstand.

Georg Hasler für die Online-Zeitung INFOsperber

Red. Der Autor lebt in Basel und beschäftigt sich mit Wirtschaft, Digitalisierung und Kulturgeschichte. Er arbeitet als Unternehmer und Berater auf kulturellem und sozialem Gebiet.

Um die Bedeutung von KI besser einzuordnen, hilft es, einen Blick auf «eine sehr kurze Geschichte der Menschheit» zu werfen:

Nachdem unsere Vorfahren über Jahrmillionen als Teil der Natur integriert gelebt hatten, begannen sie vor etwa fünfzigtausend Jahren sich ihrer Umwelt gegenüberzustellen und sich von ihr Vorstellungen zu bilden, um sich dann, begabt mit den neuen kognitiven Fähigkeiten, in drei Revolutionen mehr und mehr von den drei Grundsystemen der leiblichen Natur abzusetzen:

  1. Die neolithische Revolution, Landwirtschaft und Zusammenleben

Ernährung und Reproduktion

  1. Die industrielle Revolution, Mechanisierung und Standardisierung

 Muskel- und Bewegungsapparat

  1. Die digitale Revolution, Internet und künstliche Intelligenz

Nerven- und Sinnesapparat

Die Organisation von Landwirtschaft und Zusammenleben

Im ersten grossen Schritt vor zehntausend Jahren, lösten sich die Menschen durch die neolithische Revolution zunehmend von den Gegebenheiten der Natur im Bereich Ernährung und Fortpflanzung, indem sie durch Zucht und Domestizierung, das Wachstum von Pflanzen und Tieren unter Kontrolle brachten. Es entstanden neue Strukturen, Städte und Dörfer, Staaten und Religionen, mit Königen und Priestern, die nun Organisationen in ganz neuen Grössenordnungen vorstanden.

Jäger und Sammler wurden zu sesshaften Bauern und spezialisierten Handwerkern. Es brauchte Kalender und Nahrungsmittellager und zu deren Organisation Symbolik und Schrift, woraus Buchhaltungs- und später Geldsysteme entstanden.

Durch das neue Konzept löste sich die Menschheit von den bisher natürlichen Grenzen und wuchs über sie hinaus. Die Bevölkerung vervielfachte sich, sodass in den kurzen zehntausend Jahren bis zur industriellen Revolution ähnlich viele Leben gelebt wurden, wie in den hunderttausenden von Jahren davor.

Die Industrialisierung

Die Leistungen des menschlichen und tierischen, durch Muskelkraft betriebenen Bewegungsapparats wurden ersetzt durch mechanische Apparate und Maschinen, angetrieben von der Verbrennungsenergie. Wo früher hundert Menschen mit Sicheln und Ochsenkarren ein Feld abernteten, war es noch ein einziger Mähdrescher, von Erdöl betrieben. Und wo früher Reisende während Monaten gewandert oder geritten sind, flogen sie nun in einem Flugzeug, betrieben durch die perfekte Umwandlung von Feuer in Kraft, in Stunden von einem Land zum anderen. Und wo früher jedes Ding einzeln von Hand geschaffen wurde, kopieren nun riesige Spezialmaschinen standardisierte Massenprodukte.

Während der kurzen Zeit der Industrialisierung vermehrte sich die Bevölkerung wiederum um das Vielfache, sodass in den letzten 200 Jahren ähnlich viele Leben gelebt wurden, wie in den letzten 10’000 Jahren der Landwirtschaft und Handwerksgesellschaft.

Diese jetzt Milliarden Menschen rutschten dabei von der Handarbeit in die Kopfarbeit, von der Muskeltätigkeit in die Nerventätigkeit. Wo zu Beginn des 19. Jahrhunderts 80 Prozent auf dem Feld arbeiteten und weniger als 20 Prozent lesen konnten, war es am Ende des Jahrhunderts umgekehrt.

Die digitale Revolution und KI

Man kann die technische Erschliessung unserer kognitiven Fähigkeiten durch die Computertechnik vergleichen mit dem Ersatz der Muskelkraft durch Maschinen, Mähdrescher und Jumbojets. So umwerfend gut unser Sinnessystem und vor allem unser Gehirn auch ist, es wird künstliche Intelligenz geben, die diese Leistung quantitativ so weit in den Schatten stellen wird, wie der Düsenjet das Pferd.

Wir haben uns zwar längst daran gewöhnt, dass eine Maschine schneller rechnen kann als wir. Auch dass sie besser Schachspielen kann, als der beste unter uns. Jetzt geht es aber nicht mehr nur um das Ausführen vorprogrammierter Regeln, sondern um sogenanntes Lernen, um Mustererkennung, Einordnung und Schlussfolgerung – wovon wir bisher dachten, es sei speziell menschlich und es lohne sich, gut darin zu sein.

Ich bewunderte meinen Onkel, denn er kannte fast alle Pflanzen. Aber jetzt gibt es diese App, die das besser und schneller kann. Mein Vater sprach fünf Sprachen, aber die App kann jetzt hundert. Eine Freundin war Spezialistin, den Krebs auf Mikroskopiebildern zu erkennen. Aber jetzt kann das eine Software besser.

Und so geht das immer weiter.

Viele kleine Hilfsfunktionen schleichen sich so in unseren Alltag ein. Spracherkennung, damit wir nicht mehr tippen müssen, Gesichtererkennung der Fotokamera, um das Bild auf die Person scharf zu stellen, FaceID oder Stimmerkennung zur Personenidentifikation. Erkennungsapps zur Musikidentifikation oder Weinidentifikation, etc. Jedes Mal geht es um Mustererkennung, Einordnen, Schlussfolgern. Dann kam Chat-GPT und hat uns damit überrascht, dass sich dieser Prozess auch umdrehen lässt. Man gibt vor, was man als Resultat will, beispielsweise ein Motivationsschreiben auf zwei Seiten anhand des curriculum vitae. Die Software sucht in einem Riesenfundus von bereits bekannter und eingeordneter Daten nach passenden Mustern und produziert daraus eine neue Form. Das Resultat verblüfft. Der Text ist auf Anhieb überdurchschnittlich gut. Ebenso Bilder.

Kein Verlass mehr auf gesunden Menschenverstand und Sinne

Plötzlich stehen der gesunde Menschenverstand, unsere untrüglichen Sinne und vermeintlich klaren Begriffe auf wackligen Beinen. Die Sinne täuschen, denn sie schauen nicht mehr in die Welt selbst, sondern auf eine Synthetisierung der Welt auf dem Bildschirm und die Begriffe dazu sind nicht mehr praktisch, sondern medial bestimmt.

Wir haben in den letzten Jahren einen Vorgeschmack davon erhalten, in welche Parallelwelten und Spaltungen das führen kann, wenn uns keine gemeinsame Wirklichkeit mehr verbindet.

Es kommt zu einer Selbstbewusstseinskrise: Wer bin ich noch, wenn viele meiner besonderen Fähigkeiten, wofür ich so lange gelernt habe und dank denen ich die Welt verstehen und steuern kann, nun plötzlich durch Maschinen ersetzt werden?

Es gibt eine Kulturkrise in einer unvorstellbaren Dimension, denn unser ganzes Begriffssystem, unsere Kultur, wird in dieser neuen digitalen Technik abgebildet werden und von dort aus die neue Wirklichkeit bestimmen.

Doch wer wird darüber verfügen? Wer gibt den Zugang zur Mitgestaltung frei? Was spielt das Kapital dabei für eine Rolle? Oder wird der Staat übernehmen? Was geschieht unter diesen Umständen mit der Freiheit?

Weder gut noch schlecht – aber unaufhaltbar

Das Zeitalter der digitalen Revolution braucht Mut im Geist, auch Phantasie, um über die grossen Fragen unter den völlig neuen Umständen nachzudenken. Was ist Wirklichkeit? Wo sind wir Mensch und nicht Maschine? Was ist Mensch? Was ist Gemeinschaft? Was ist Bewusstsein?

Die neue Technik birgt, wie jede zuvor, neue Gefahren und neue Möglichkeiten zugleich. Sie stellt neue Aufgaben und verlangt neue Antworten. Die Industrialisierung verursachte grosse Nöte, für die neue Lösungen entwickelt werden mussten. Sie haben zu unserer heutigen Welt mit allgemeiner Schulbildung, Pensionskassen und Fitnesszentren geführt.

Die Frage ist, welche Nöte entstehen durch die neue Technik? Welche Antworten können wir dazu entwickeln und was für eine Welt werden wir daraus bauen? Was bedeuten Begriffe wie Arbeit, Lernen oder Zusammenleben in hundert Jahren?

Die neue Technik könnte die Erde auch schon recht bald wieder erblühen lassen. Ich denke an eine wilde Wiese am Waldrand, an die scheinbar chaotische Schönheit der Natur, mit der ein industrieller Mähdrescher nichts anfangen kann. Seinetwegen musste die Natur in eine standardisierte Monokultur verwandelt werden.

Weil nun Digitaltechnik die Möglichkeit hat, so flexibel und anpassungsfähig wie das Leben selbst zu reagieren, wird Vielfalt und scheinbares Chaos auch maschinell bearbeitbar. Möglicherweise bietet KI genau die Technik, womit die gesamte Landwirtschaft in Permakultur verwandelt werden kann, ohne dass wir zur Feldarbeit zurückkehren müssen.

Die Digitalisierung könnte nicht nur den Umgang mit der Landwirtschaft, sondern das Verständnis des Lebendigen überhaupt von Grund auf verändern. Sowohl dank Gen-Sequentiergeräten und allerlei günstigen, vernetzten Sensortechniken, wie auch durch neue KI-Techniken zur Verarbeitung dieser Datenmengen, entstehen neue Bilder, wie die sichtbare Welt der Pflanzen und Tiere, mit der unsichtbaren Welt der Mikroorganismen, den Pilzen, Bakterien und Viren zusammenwirken. Diese Einsichten könnten unsere Medizin und Landwirtschaft von Grund auf verändern.

Es ist eine Binsenwahrheit, dass Technik weder gut noch schlecht ist und es nur darauf ankommt, wie man damit umgeht. Die neue digitale Technik ist zwar hochgradig geeignet, uns einzuschläfern und perfekt zu versklaven. Sie könnte, dank ihrer Flexibilität, es uns aber auch ermöglichen, Lebendiges lebendig zu belassen und Menschliches menschlich. Wir müssten das Leben nicht mehr, so wie in den letzten zweihundert Jahren, den Maschinen anpassen.

Das könnte uns befreien.