Berlin ist mit Israel über sanitätsdienstliche Unterstützung im Gespräch. Zahl ziviler Opfer im Gazastreifen steigt. US-Außenminister warnt, bei weiterer Eskalation fehlten künftig „Partner für den Frieden“.

Die Bundesregierung ist mit Israel über medizinische Hilfen für die in Gaza kämpfenden israelischen Truppen im Gespräch. Dies geht aus Äußerungen von Sprechern der Bundesregierung hervor. Demnach steht das Bundesverteidigungsministerium „in einem engen Austausch“ mit Tel Aviv und verhandelt „insgesamt über sanitätsdienstliche Unterstützung“. Dies geschieht, während die Kritik am Vorgehen der israelischen Streitkräfte im Gazastreifen weltweit zunimmt und Israel in zunehmendem Ausmaß isoliert. Die Zahl der Todesopfer in Gaza hat die Zahl der zivilen Todesopfer im Ukraine-Krieg nahezu eingeholt. UN-Generalsekretär António Guterres warnt, das humanitäre Völkerrecht sei „kein à la carte-Menü“; es dürfe „nicht selektiv angewandt“ werden. US-Außenminister Antony Blinken dringt zumindest auf eine Feuerpause und warnt, wenn die Bevölkerung „von der humanitären Katastrophe verzehrt“ und „entfremdet durch die wahrgenommene Gleichgültigkeit gegenüber ihrer Not“ sei, werde es nach dem Ende der Kampfhandlungen „keine Partner für den Frieden“ mehr geben. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck teilt den Gedanken nicht und postuliert: „Es ist jetzt nicht die Zeit, über Frieden zu reden.“

Die humanitäre Katastrophe

Die Zahl der Todesopfer im Gazastreifen erreichte am Sonntagabend laut Angaben der dortigen Gesundheitsbehörden 9.730. Damit nähert sie sich der Zahl der zivilen Todesopfer im Ukraine-Krieg, die seit dem 24. Februar 2022 den Vereinten Nationen zufolge inzwischen auf mehr als 9.900 gestiegen ist.[1] Zwar ist nicht klar, wie viele Milizionäre sich unter den Opfern in Gaza befinden. Doch wurden dort mehrheitlich Kinder und Jugendliche (rund 4.800) oder Frauen (etwa 2.550) getötet. Während israelische Regierungsstellen die Angaben der Gesundheitsbehörden als übertrieben abtun, weisen kritische Stimmen auch in Israel darauf hin, dass sie sich in der Vergangenheit gewöhnlich als zuverlässig erwiesen haben.[2] Bis zu diesem Wochenende kamen im Gazastreifen außerdem 79 UN-Mitarbeiter zu Tode – fast zwei Drittel der 116 UN-Mitarbeiter, die im Jahr 2022 weltweit ihr Leben verloren.[3] Mehr als 1,4 Millionen der insgesamt 2,3 Millionen Einwohner sind auf der Flucht, ohne freilich eine Chance zu haben, sich vor den überall einschlagenden Bomben in Sicherheit zu bringen. Mittlerweile sind 16 der 35 Krankenhäuser geschlossen; die übrigen werden nur noch eingeschränkt betrieben, weil Treibstoff und Medikamente kaum mehr vorhanden sind. Die gesamte Gesundheitsversorgung hänge „am seidenen Faden“, hieß es bereits Anfang vergangener Woche.[4]

„Kein à la carte-Menü“

Heftigen Protest äußern die Vereinten Nationen. Mitte vergangener Woche konstatierte das UN-Menschenrechtskommissariat, unter anderem bei dem israelischen Angriff auf das Flüchtlingslager Jabalia könne es sich wegen der hohen Zahl ziviler Todesopfer und wegen des Ausmaßes der Zerstörung um ein „Kriegsverbrechen“ handeln.[5] Berichten zufolge wurden bei mehreren Angriffen auf das Lager mindestens 195 Menschen getötet; mehr als hundert wurden noch unter den Trümmern vermutet. Nach einem Angriff auf einen Konvoi von Krankenwagen, dem Bombardements von Krankenhäusern vorausgegangen waren, gab sich der Generaldirektor der Weltgesundheitsorganisation (WHO), Tedros Adhanom Ghebreyesus, „zutiefst geschockt“: „Patienten, Gesundheitspersonal, Einrichtungen und Krankenwagen müssen zu allen Zeiten geschützt werden. Immer.“[6] UN-Generalsekretär António Guterres zeigte sich gleichfalls „entsetzt“. „Ich vergesse die Terrorangriffe, die in Israel von der Hamas begangen wurden, nicht“, betonte Guterres. Nun würden aber seit fast einem Monat Zivilisten im Gazastreifen belagert, von Hilfe abgeschnitten, getötet und aus ihren Wohnungen gebombt: „Das muss aufhören.“[7] Guterres hatte bereits zuvor gewarnt, das humanitäre Völkerrecht sei „kein à la carte-Menü“ und dürfe „nicht selektiv angewandt“ werden.[8]

Zunehmend isoliert

Die rücksichtslose Kriegführung stößt im Ausland in steigendem Maß auf scharfe Kritik. Mehrere Staaten haben mittlerweile aus Protest gegen die hohe Zahl an zivilen Todesopfern ihre Botschafter aus Israel zurückgerufen, darunter etwa Chile, Kolumbien und Honduras, Jordanien und Bahrain. Bahrain ist eines der Länder, die mit Israel ein sogenanntes Abraham-Abkommen geschlossen haben. Bolivien hat sogar seine diplomatischen Beziehungen zu Israel abgebrochen – bereits zum zweiten Mal: Der damalige Präsident Evo Morales hatte dies bereits im Jahr 2009 aus Protest gegen Israels Vorgehen im Gazastreifen getan; die 2019 per kaltem Putsch an die Macht gelangte Übergangspräsidentin Jeanine Áñez [9] hatte die diplomatischen Beziehungen zu Israel 2020 wiederaufgenommen. Dass sich Israel mit seiner Kriegführung immer stärker isoliert, zeigte bereits das Votum der UN-Generalversammlung vom 27. Oktober. Lediglich 14 Staaten lehnten die Resolution mit ihrer Forderung nach einem Waffenstillstand im Gazastreifen ab: neben den USA, Israel und vier EU-Mitgliedern lediglich zwei Staaten Lateinamerikas und sechs Pazifikstaaten, die in ihrer aktuellen Politik von den Vereinigten Staaten abhängig sind.[10] Unter den 45 Staaten, die sich enthielten, befanden sich nur 15 aus dem Globalen Süden. Dieser geht ganz überwiegend zu Israel auf Distanz.

„Keine Partner für den Frieden“

Zur zunehmenden äußeren Isolation kommt mittlerweile auch Druck aus den Vereinigten Staaten hinzu. Hintergrund ist vor allem, dass die USA weiterhin ihren globalen Schwerpunkt auf den Machtkampf gegen China legen und deshalb einen ausufernden Flächenbrand im Nahen Osten verhindern wollen, der sie – wie zuletzt der Krieg gegen den IS – erneut von der Konzentration all ihrer Kräfte auf die Asien-Pazifik-Region abhalten würde. Washington hat deshalb die israelische Bodenoffensive zumindest zu verzögern versucht. Nun dringen die Vereinigten Staaten auf eine Feuerpause. Außenminister Antony Blinken erklärte am Freitag bei einem Besuch in Israel, er sei unverändert schockiert über das Hamas-Massaker vom 7. Oktober. Doch sei er auch erschüttert über die Bilder toter und verwundeter palästinensischer Kinder in Gaza: „Wenn ich das sehe, sehe ich meine eigenen Kinder.“[11] Israel habe zwar das Recht, sich selbst zu verteidigen. Allerdings müsse das unter Einhaltung des humanitären Völkerrechts geschehen. Wenn die Bevölkerung „von der humanitären Katastrophe verzehrt“ sei und „entfremdet durch die wahrgenommene Gleichgültigkeit gegenüber ihrer Not“, dann werde es „keine Partner für den Frieden“ geben, warnte Blinken im Hinblick auf die Zeit nach dem Krieg.[12]

Kein Ende der Gewaltspirale

Die Bundesregierung weist derlei Überlegungen zurück. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck erklärte in der vergangenen Woche explizit: „Es ist jetzt nicht die Zeit, über Frieden zu reden.“[13] Habeck positionierte sich damit gegen die jüdische Schriftstellerin Deborah Feldman, die in einer TV-Talkshow mit Blick auf die hohe, schnell steigende Zahl ziviler Todesopfer im Gazastreifen erklärt hatte: „Es gibt eine erhebliche Stimme in der [jüdischen, d. Red.] Diaspora, die nach einem Ende der Gewaltspirale schreit. Ich gehöre dazu.“ „Wenn diese Eskalation der Gewalt nicht beendet wird“, warnte Feldman, dann „erleben wir möglicherweise eine dramatische, gefährliche Entwicklung“ – und das nicht nur „in unserer Gesellschaft“, sondern auch „in der Welt“, „die wir nicht mehr in den Griff bekommen“. Habeck lehnte Feldmans Warnung „politisch“ eindeutig ab: „Als politische Haltung schließt sich das für mich aus.“[14] Deutschland werde Israel weiter im Krieg unterstützen, nicht zuletzt mit Waffenlieferungen (german-foreign-policy.com berichtete [15]).

Sanitätsdienstliche Unterstützung

Aktuell ist die Bundesregierung mit Israel über medizinische Hilfen für Israel im Gespräch. Auf die Frage, ob es zutreffe, dass „Deutschland um ein Lazarettschiff gebeten worden sei …, um die Verletzten aus dem Gazastreifen zu behandeln“, bestätigte ein Regierungssprecher am vergangenen Freitag, Berlin „prüfe“ derzeit“ „nach Kräften, was wir anbieten können“.[16] Ein „Lazarettschiff“ besitze die Deutsche Marine allerdings nicht. Eine Sprecherin des Verteidigungsministeriums erläuterte, es sei „kein Geheimnis“, dass „wir mit Israel in einem engen Austausch stehen und insgesamt über sanitätsdienstliche Unterstützung sprechen“. Die drei Einsatzgruppenversorger der Marine verfügten „über unterschiedliche sanitätsdienstliche Möglichkeiten“. Einer von ihnen, die Frankfurt am Main, befindet sich derzeit im östlichen Mittelmeer. Auf die Frage, ob die Marine eventuell „medizinische Hilfsleistungen für im Gazastreifen verwundete Palästinenser“ durchführen werde, erklärte ein Regierungssprecher: „Das ist mir nicht bekannt.“[17]

 

[1] ‘Unceasing Death, Destruction, Suffering’ of Russian Federation’s War on Ukraine Must End, Senior Humanitarian Affairs Official Tells Security Council. press.un.org 31.10.2023.

[2] Jack Khoury: Gaza Aid Groups Struggle to Estimate Extent of Destruction. They Say It’s Never Been Worse. haaretz.com 03.11.2023.

[3] Charles R. Davis: More UN aid workers have been killed in Gaza in the last few weeks than in all previous wars between Israel and Hamas combined. businessinsider.com 02.11.2023.

[4] Nadeen Ebrahim, Abeer Salman: Surgery without drugs, patients piling up: Gaza’s hospitals overwhelmed amid Israeli strikes and fuel shortages. edition.cnn.com 02.11.2023.

[5] Israel’s attacks on Gaza refugee camp may amount to war crimes, UN human rights office says. cbc.ca 01.11.2023.

[6] Ben Samuels: Israel’s UN envoy slams WHO for ‘bias and double standards’. haaretz.com 04.11.2023.

[7] Andrew Carey, Tara John, Kevin Flower: Israel admits airstrike on ambulance near hospital that witnesses say killed and wounded dozens. edition.cnn.com 04.11.2023.

[8] UN chief warns humanitarian law not ‘an a la carte menu’ in Israel-Hamas war. ynetnews.com 31.10.2023.

[9] S. dazu Berlin und der Putsch (II).

[10] Bei den Ländern handelt es sich um Guatemala und Paraguay sowie um Fidschi, die Marschallinseln, die Föderierten Staaten von Mikronesien, Nauru, Papua-Neuguinea und Tonga. Die vier EU-Staaten sind Österreich, Tschechien, Ungarn und Kroatien.

[11], [12] Matthew Lee, Eric Tucker: Blinken warns Israel that humanitarian conditions in Gaza must improve to have ‘partners for peace’. apnews.com 03.11.2023.

[13], [14] Marko Schlichting: „Es ist jetzt nicht die Zeit, über Frieden zu reden“. n-tv.de 02.11.2023.

[15] S. dazu Waffen für Israel und Einsatz im östlichen Mittelmeer.

[16], [17] Regierungspressekonferenz vom 3. November 2023. bundesregierung.de 03.11.2023.

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