Während des grausamen Vietnamkriegs wurde gesagt, dass die US-Regierung die Öffentlichkeit wie eine Pilzzucht behandelte: Sie ließ sie im Dunkeln und fütterte sie mit Dung. Der heldenhafte Daniel Ellsberg ließ die Pentagon-Papiere durchsickern, in denen die unerbittlichen Lügen der US-Regierung über den Krieg dokumentiert wurden, um Politiker zu schützen, die sich für die Wahrheit schämen würden. Ein halbes Jahrhundert später, während des Ukraine-Krieges, wird der Mist noch höher aufgetürmt.

von Jeffrey D. Sachs

[Mit der Veröffentlichung dieses Artikels soll in keiner Weise Russlands Angriff auf sein Nachbarland und die völkerrechtswidrige Verletzung der territorialen Souveränität von der Ukraine gerechtfertigt werden. Dieser Krieg, hätte von allen Beteiligten (Russland, Ukraine und dem Westen unter Führung der USA) verhindert werden können und müssen. Da die westliche Mitschuld an diesem Krieg weitgehend in der Berichterstattung unerwähnt bleibt, ist es uns ein Anliegen unsere mehrheitlich im globalen Westen lebende Leserschaft auf diesen Zusammenhang hinzuweisen. Anmerkung der Redaktion Berlin]

Nach der Ansicht der US-Regierung und der stets unnachgiebigen Nachrichtenagentur New York Times, war der Krieg in der Ukraine „unprovoziert“, das Lieblingsadjektiv der Times zur Beschreibung des Krieges. Putin, der sich angeblich mit Peter dem Großen vergleicht, fiel in die Ukraine ein, um das Russische Reich wieder zu errichten. Doch in der vergangenen Woche passierte der NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg in Washington ein Ausrutscher, nämlich eines, in dem er versehentlich die Wahrheit aussprach.

In seiner Aussage vor dem Parlament der Europäischen Union machte Stoltenberg deutlich, dass der wahre Grund für den Krieg, der bis heute andauert, Amerikas unnachgiebiges Drängen auf eine Erweiterung der NATO auf die Ukraine war.

„Der Hintergrund war, dass Präsident Putin im Herbst 2021 ankündigte und später tatsächlich einen Vertragsentwurf vorlegte, den die NATO unterzeichnen sollte. Das beinhaltete unser Versprechen, die NATO nicht zu erweitern. Das war es, was er uns geschickt hat, und es war eine Vorbedingung dafür, nicht in die Ukraine einzumarschieren. Natürlich haben wir das nicht unterschrieben.

Das Gegenteil davon war der Fall. Er wollte, dass wir das Versprechen unterschreiben, die NATO niemals zu erweitern. Er wollte, dass wir unsere militärische Infrastruktur in allen Verbündeten, die der NATO seit 1997 beigetreten sind, auflösen, sprich, die Hälfte der NATO, ganz Mittel- und Osteuropa, sollten wir aus diesem Teil unseres Bündnisses entfernen und eine Art B-Mitgliedschaft oder Mitgliedschaft zweiter Klasse einführen. Das haben wir abgelehnt.

Schlussendlich zog er in den Krieg, um die NATO, mehr NATO, in der Nähe seiner Grenzen zu verhindern. Er hat genau das Gegenteil erreicht.

Um das noch einmal zu wiederholen, Putin zog in den Krieg, um die NATO, mehr NATO, an seinen Grenzen zu verhindern.

Wenn Prof. John Mearsheimer, ich und andere dasselbe gesagt haben, wurden wir als Putin-Verteidiger angegriffen. Dieselben Kritiker verschweigen oder ignorieren die eindringlichen Warnungen vor einer NATO-Erweiterung um die Ukraine, die viele führende amerikanische Diplomaten, darunter der große Staatswissenschaftler George Kennan und die ehemalige US-Botschafter in Russland Jack Matlock und William Burns seit langem ausgesprochen haben.

Burns, der jetzige CIA-Direktor, war 2008 US-Botschafter in Russland und Verfasser eines Memos mit dem Titel „Nyet means Nyet“ (dt: Nein heißt Nein). In diesem Memo erklärte Burns Außenministerin Condoleezza Rice, dass die gesamte politische Klasse Russlands, nicht nur Putin, die NATO-Erweiterung strikt ablehnt. Wir wissen von der Memo nur, weil es durchgesickert ist. Andernfalls wären wir darüber im Dunkeln getappt.

Doch warum lehnt Russland die NATO-Erweiterung ab? Aus einem einfachen Grund: Russland akzeptiert an seiner 2.300 km langen Grenze zur Ukraine im Schwarzmeerraum das US-Militär nicht. Russland ist nicht erfreut, dass die USA Aegis-Raketen in Polen und Rumänien stationiert haben, nachdem die USA einseitig den ABM-Vertrag (Anti-Ballistic-Missle9 aufgehoben haben.

Russland begrüßt auch nicht die Tatsache, dass die USA während des Kalten Krieges (1947-1989) nicht weniger als 70 Regimewechsel-Operationen durchgeführt haben und seitdem unzählige weitere, darunter in Serbien, Afghanistan, Georgien, Irak, Syrien, Libyen, Venezuela und der Ukraine. Auch gefällt es Russland nicht, dass viele führende US-Politiker unter dem Banner der „Entkolonialisierung Russlands“ aktiv für die Zerstörung Russlands auftreten. Das wäre so, als würde Russland die Abtretung von Texas, Kalifornien, Hawaii, den eroberten Indianergebieten und vielem mehr von den Vereinigten Staaten fordern.

Sogar Selenskyj Team wusste, dass das Streben nach einer NATO-Erweiterung einen sich anbahnenden Krieg mit Russland bedeutet. Oleksiy Arestovych, ehemaliger Berater im Büro des ukrainischen Präsidenten unter Selenskyj, erklärte, dass „mit einer Wahrscheinlichkeit von 99,9 % unser Preis für den NATO-Beitritt ein großer Krieg mit Russland ist.“

Arestovych behauptete, dass Russland auch ohne die NATO-Erweiterung irgendwann versuchen würde, die Ukraine zu erobern, nur eben viele Jahre später. Doch die Geschichte widerlegt dies. Russland hat die Neutralität Finnlands und Österreichs jahrzehntelang respektiert, ohne dass es zu ernsthaften Drohungen, geschweige denn zu Invasionen gekommen wäre. Außerdem zeigte Russland seit der Unabhängigkeit der Ukraine im Jahr 1991 bis zum von den USA unterstützten Sturz der gewählten ukrainischen Regierung im Jahr 2014 kein Interesse daran, ukrainisches Territorium einzunehmen. Erst als die USA im Februar 2014 ein entschieden antirussisches, pro-NATO-Regime errichteten, holte sich Russland die Krim zurück, weil es befürchtete, dass sein Schwarzmeer-Marinestützpunkt auf der Krim (seit 1783) in die Hände der NATO fallen würde.

Sogar damals verlangte Russland von der Ukraine kein weiteres Gebiet, sondern nur die Erfüllung des von den Vereinten Nationen unterstützten Minks-II-Abkommens, in dem die Autonomie des ethnisch-russischen Donbass gefordert wurde, nicht aber ein russischer Anspruch auf dieses Gebiet. Doch statt Diplomatie zu üben, bewaffneten die USA eine riesige ukrainische Armee, bildeten sie aus und halfen sie zu organisieren, um die NATO-Erweiterung vor vollendete Tatsachen zu stellen.

Ende 2021 unternahm Putin einen letzten diplomatischen Versuch, indem er den Entwurf eines Sicherheitsabkommens zwischen den USA und der NATO vorlegte, um einen Krieg zu verhindern. Der Kern des Abkommensentwurfes war die Auflösung der NATO-Erweiterung und dem Abzug der US-Raketen in der Nähe Russlands. Die Sicherheitsbedenken Russlands waren berechtigt und bildeten die Grundlage für Verhandlungen. Doch Biden lehnte die Verhandlungen aus einer Kombination von Arroganz, Überheblichkeit und einer tiefgreifenden Fehleinschätzung heraus kategorisch ab. Die NATO hielt an ihrem Standpunkt fest, dass sie mit Russland nicht über die NATO-Erweiterung verhandeln würde und dass die NATO-Erweiterung Russland im Grunde nichts angehe.

Die anhaltende Besessenheit der USA von der NATO-Erweiterung ist zutiefst unverantwortlich und heuchlerisch. Die USA würden sich dagegen wehren, von russischen oder chinesischen Militärstützpunkten in der westlichen Hemisphäre eingekreist zu werden – notfalls auch mit kriegerischen Mitteln – ein Punkt, den die USA seit der Monroe-Doktrin von 1823 vertreten. Doch die USA sind blind und taub gegenüber den berechtigten Sicherheitsbedenken anderer Länder.

Ja, Putin ist in den Krieg gezogen, um die NATO, mehr NATO, an der russischen Grenze zu verhindern. Die Ukraine wird durch die Arroganz der USA zerstört, womit sich erneut Henry Kissingers Spruch bewahrheitet, dass es gefährlich ist, einerseits Amerikas Feind zu sein und andererseits es tödlich ist, sein Freund zu sein. Der Ukraine-Krieg wird enden, wenn die USA eine einfache Wahrheit eingestehen: Die NATO-Erweiterung um die Ukraine bedeutet ewigen Krieg und die Zerstörung der Ukraine. Die Neutralität der Ukraine hätte den Krieg verhindern können – das bleibt der Schlüssel zum Frieden. Die tiefere Wahrheit ist, dass die europäische Sicherheit von der gemeinsamen Sicherheit abhängt, wie sie von der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) gefordert wird, und nicht von einseitigen Forderungen der NATO.

Die Übersetzung aus dem Englischen wurde von Sabine Prizigoda vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt. Wir suchen Freiwillige!


Jeffrey D. Sachs: Professor an der Columbia University, ist Direktor des Zentrums für nachhaltige Entwicklung an der Columbia University und Präsident des UN Sustainable Development Solutions Network. Er war Berater von drei UN-Generalsekretären und ist derzeit Sustainable Development Goals-Advokat von Generalsekretär António Guterres. Dieser Artikel wurde vom Autor an Other News geschickt.