Habeck treibt bei Besuch in Indien den Abschluss eines Freihandelsabkommens mit der EU voran. Wirtschaftsvertreter erteilen dem Plan, das China- durch das Indiengeschäft zu ersetzen, eine klare Absage.

Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck dringt bei seinem Besuch in Indien auf den raschen Abschluss eines Freihandelsabkommens mit der EU. „Wir haben jetzt die Chance, innerhalb des nächsten Halbjahres voranzukommen“, erklärte Habeck gestern in New Delhi. Über das Abkommen wird schon seit 2007 verhandelt; die Gespräche wurden 2013 auf Eis gelegt und erst im vergangenen Jahr neu gestartet. Bei der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik heißt es, zwar stünden beide Seiten unter Druck, das Abkommen unter Dach und Fach zu bekommen; man könne aber mit Blick auf die stark divergierenden Interessen beider Seiten „mit gutem Grund skeptisch sein“, ob dies gelinge. Auch bezüglich der Berliner Pläne, das deutsche Chinageschäft so weit wie möglich nach Indien zu lenken, werden skeptische Äußerungen laut; mit Blick unter anderem auf Indiens überbordende Bürokratie und auf ernste Mängel in der Infrastruktur warnt etwa der Princeton-Ökonom Ashoka Mody: „Die Behauptung, dass Indien boomt, ist völlig falsch.“ Chancen ergeben sich aktuell in der Solarbranche. Berlin will zudem die Rüstungsexporte ankurbeln – auch, um die indisch-russische Rüstungskooperation zu brechen.

Bald die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt

Ökonomen sehen für den Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen zu Indien, den Deutschland und die EU anstreben, grundsätzlich einiges Potenzial. Die indische Wirtschaft wächst rasch, in diesem Jahr voraussichtlich um rund sechs Prozent; Indien ist kürzlich zum Land mit der fünftgrößten Wirtschaftsleistung der Welt vor der ehemaligen Kolonialmacht Großbritannien aufgestiegen und wird vermutlich schon in wenigen Jahren Deutschland vom Platz der viertgrößten Volkswirtschaft der Welt verdrängen. Prognosen aus der Finanzbranche zufolge, etwa von Goldman Sachs, könnte Indien im Jahr 2075 in absoluten Dollarwerten zur zweitgrößten Wirtschaftsmacht weltweit hinter China und vor den USA aufgestiegen sein; berechnet man die Wirtschaftsleistung nach Kaufkraftparität, wäre dies wohl schon erheblich früher der Fall.[1] Allein schon sein Marktvolumen macht das Land prinzipiell für deutsche Unternehmen interessant. Der deutsch-indische Handel ist zuletzt von 23,3 Milliarden Euro im Jahr 2021 auf fast 30 Milliarden Euro im Jahr 2022 gestiegen. Auch die Investitionen nehmen wieder zu; zuletzt steckten etwa SAP 55 Millionen Euro und Siemens Healthineers 160 Millionen Euro in den Ausbau ihrer Standorte im südindischen Bengaluru, einer elf Millionen Einwohner starken Metropole, die wegen ihrer boomenden IT-Branche als Indiens Silicon Valley gilt.

Außenwirtschaftlich im Abseits

Um dem Handel mit Indien einen Schub zu verpassen, dringt die Bundesregierung energisch darauf, ein Freihandelsabkommen der EU mit dem Land unter Dach und Fach zu bringen. Verhandlungen darüber wurden bereits 2007 gestartet, zogen sich dann aber in die Länge und wurden 2013 vorläufig eingestellt. Im vergangenen Jahr wurden sie wieder aufgenommen. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck hat am gestrigen Donnerstag in New Delhi Gespräche darüber geführt. Im Februar wies die Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) darauf hin, dass Indien weder der asiatischen Freihandelszone RCEP noch dem transpazifischen Freihandelsbündnis CPTPP angehört, also in Asien „außenwirtschaftlich im Abseits“ steht – ein Nachteil „im Standortwettbewerb um neue Industrieansiedlungen“.[2] Dadurch unter Druck geratend, hat es mittlerweile seine Bemühungen um den Abschluss neuer Freihandelsabkommen gesteigert. 2021 wurde eines mit Mauritius, 2022 eines mit den Vereinigten Arabischen Emiraten geschlossen; weitere mit dem Gulf Cooperation Council (GCC, Zusammenschluss der arabischen Golfstaaten), Israel, Großbritannien sowie Kanada sind in Arbeit. Damit ergeben sich auch für die EU neue Chancen. Freilich warnt die SWP, man könne „mit gutem Grund skeptisch sein“, ob sich die divergierenden Interessen beider Seiten bezüglich „Marktöffnung, Liberalisierung und Nachhaltigkeit in Einklang bringen“ ließen.

Die Probleme des Indiengeschäfts

Auch jenseits der Debatte um das Freihandelsabkommen sind aus der deutschen Wirtschaft schon seit je durchaus skeptische Einschätzungen zu den Perspektiven des Indiengeschäfts zu hören. Zwar trommelten deutsche Politiker regelmäßig dafür, Investitionen aus China nach Indien zu verlegen oder zumindest Neuinvestitionen dort statt in der Volksrepublik zu tätigen, heißt es; dem stünden allerdings seit Jahrzehnten bekannte, aber bis heute nicht beseitigte Probleme entgegen.[3] Das gelte zum Beispiel für die „Bürokratie und ein komplexes regulatorisches Umfeld“ in dem Land, konstatierte vor einigen Tagen die Vizepräsidentin des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK) Kirsten Schoder-Steinmüller.[4] Zu den „größten Herausforderungen für deutsche Unternehmen in Indien“ gehörten auch die grassierende Korruption und „Mängel in der Infrastruktur“, wird Wolfgang Niedermark von der Hauptgeschäftsführung des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI) zitiert.[5] Erst kürzlich brach der Konzern Foxconn aus Taiwan den Versuch, für fast 20 Milliarden US-Dollar gemeinsam mit dem indischen Konglomerat Vedanta eine Chipfabrik in Indien zu errichten, frustriert ab. Der Ökonom Ashoka Mody von der Princeton University urteilt: „Die Behauptung, dass Indien boomt, ist völlig falsch“.[6] Das Land könne in Wirklichkeit „mit Chinas Produktivität nicht mithalten“.

Chancen in der Solarenergie

Berlin setzt dennoch alles daran, das Indiengeschäft energisch anzukurbeln. „Indien ist ein Gegengewicht zu China“, hielt Wirtschaftsminister Habeck vor seiner aktuellen Reise fest; es gelte daher unbedingt, die ökonomischen Bindungen zu stärken.[7] Erfolgschancen zeichnen sich zur Zeit in der Solarenergie ab. In Indien bzw. vor allem in seinem nordwestlichen Bundesstaat Gujarat, in dem Premierminister Narendra Modi vor seinem Amtsantritt in New Delhi von 2001 bis 2014 als Regierungschef amtierte, ist in den vergangenen Jahren eine boomende Solarbranche entstanden, die bislang durchaus mit Erfolg Solarmodule im großen Stil herstellt. Zwar liegen ihre Produktionskosten noch spürbar über denjenigen, die in China erreicht werden. Doch subventioniert die indische Regierung die Branche mit Geldern in Höhe von 80 Prozent der Mehrkosten, die in Gujarat gegenüber den billigsten Herstellern in China entstehen.[8] Habeck wird auf seiner Indien-Reise vom Geschäftsführer des Start-ups Enpal begleitet, das Solaranlagen im großen Stil vertreibt; es soll geprüft werden, ob Enpal auf indische Solarmodule umsteigen kann. Allerdings sind Indiens Kapazitäten beschränkt. Wie die Internationale Energieagentur (IEA) schätzt, werde der chinesische Weltmarktanteil bei erfolgreicher Produktion in Indien und den USA zwar sinken, aber nur von – je nach Marktsegment – heute 80 bis 95 Prozent auf 75 bis 90 Prozent im Jahr 2027.[9]

Rüstungsexporte

Auszubauen sucht die Bundesregierung nicht zuletzt die Rüstungsexporte nach Indien, die in den vergangenen Jahren immer wieder niedrige dreistellige Millionenbeträge erreichten. Verteidigungsminister Boris Pistorius teilte Anfang Juni bei einem Besuch in New Delhi mit, er wolle sich dafür einsetzen, dass Waffenausfuhren nach Indien denjenigen nach Australien oder nach Japan gleichgestellt werden; das würde die Genehmigungsverfahren erheblich erleichtern.[10] Am Rande von Pistorius‘ Besuch unterzeichneten Repräsentanten der deutschen Werft ThyssenKrupp Marine Systems (TKMS) und der indischen Mazagon Dock Shipbuilders aus Mumbai eine Absichtserklärung, die die gemeinsame Entwicklung neuer U-Boote für die indische Marine vorsieht. Kommen die beiden Unternehmen zum Zug, dann sollen die U-Boote gemeinsam in Indien gebaut werden. Beide Unternehmen hatten schon in den 1980er Jahren beim Bau von vier U-Booten kooperiert; zwei von ihnen wurden damals beim TKMS-Vorläufer HDW gebaut, zwei bei Mazagon.[11] Berlin unterstützt das deutsche Angebot auch mit dem Ziel, die bislang enge indisch-russische Rüstungskooperation zu brechen. Dass das gelingt, darf freilich bezweifelt werden: Vor einigen Tagen bot New Delhi Moskau an, den russischen Streitkräften nach dem Ende des Ukraine-Krieges BrahMos-Raketen zu liefern. Diese wurden in indisch-russischer Kooperation entwickelt; hergestellt werden sie in Indien.[12]

 

[1] How India could rise to the world’s second-biggest economy. goldmansachs.com 06.07.2023.

[2] Hanns Günther Hilpert, Bettina Rudloff, Christian Wagner: Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen zwischen Indien und der EU. SWP-Aktuell 2023/A 11. Berlin, 10.02.2023.

[3] S. dazu „Indien einbinden“.

[4] Dreitägige Reise nach Indien: Robert Habeck will Zusammenarbeit ausbauen. rnd.de 19.07.2023.

[5] Warum Indien für Deutschland wichtiger wird. rnd.de 19.07.2023.

[6] Mathias Peer, Klaus Stratmann: Warum Indien nicht das neue China wird. handelsblatt.com 19.07.2023.

[7] „Zeit, die Köpfe ins Wasser zu stecken und abzukühlen“. n-tv.de 19.07.2023.

[8], [9] International Energy Agency: Renewables 2022. Analysis and forecast to 2027. Paris, December 2022.

[10] Pistorius will leichtere Rüstungsgeschäfte mit Indien. tagesschau.de 06.06.2023.

[11] TKMS And MDL Join Forces To Build Submarines For And In India. navalnews.com 08.06.2023.

[12] Navya Beri: India considers selling BrahMos missiles to Russia. wionews.com 16.07.2023.

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