Die Entwicklungshilfe des Westens sei höher als je, wird behauptet. Doch effektiv nimmt sie ab – auch jene der Schweiz.

Markus Mugglin für die Online-Zeitung INFOsperber

Die Entwicklungshilfe der reichen Länder sei auf den höchsten je erreichten Stand gestiegen, meldete jüngst die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung OECD.  Mit 204 Milliarden US-Dollar sei 2022 erstmals die Marke von 200 Milliarden US-Dollar übertroffen worden. Auch gemessen an der Wirtschaftsleistung der Geberländer sei mit dem Anteil von 0,36 Prozent ein noch nie erreichtes Niveau erreicht worden. Die Schweiz weist mit 0,56 Prozent gemessen an der Wirtschaftsleistung ebenfalls einen neuen Rekordwert aus.

Grosser Teil der Hilfe bleibt im Land  

Die Statistiken machen den Anschein wachsender Solidarität mit den Ländern im globalen Süden. Doch der Schein trügt. Denn längst nicht die gesamten 204 Milliarden sind «öffentliche, konzessionäre Finanzierungen zur wirtschaftlichen Entwicklung und Verbesserung der Lebensbedingungen in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen», wie die OECD Entwicklungshilfe definiert. Ein beträchtlicher Teil davon kommt nicht Entwicklungsländern, sondern den Geberländern selber zugut. Sie sind neuerdings «ein Hauptempfänger ihrer eigenen Entwicklungshilfe».

30 Milliarden US-Dollar, ein Siebtel der Gelder, gaben sie letztes Jahr im eigenen Land für die bei ihnen Schutz suchenden Flüchtlinge aus. In der Schweiz lag der Anteil noch deutlich höher. «Jeder vierte Franken bleibt in der Schweiz» von den offiziell ausgewiesenen mehr als 4,2 Milliarden Franken, registrierte Alliance Sud, das Kompetenzzentrum für internationale Zusammenarbeit und Entwicklungspolitik.

Was als rund zehnprozentiger Anstieg der Hilfsgelder zu einem Rekordwert angepriesen wird, schrumpft auf eine kaum wahrnehmbare Zunahme von weniger als einem Prozent. Und wie die in den Geberländern gestiegenen Kosten für Flüchtlinge vor allem für acht Millionen Menschen aus der Ukraine ausgegeben werden, so ist das kriegsgeplagte Land auch zu einem Hauptempfänger der westlichen Entwicklungshilfe aufgestiegen. Im Jahre 2021 erhielt es nur knapp eine Milliarde US-Dollar, ein Jahr später hingegen rund 16 Milliarden. So hat sich die Hilfe an die Ukraine vervielfacht, während sie für alle anderen Länder um acht Prozent schrumpfte. Oder anders formuliert. Was der Ukraine neu zugutekommt, fällt bei den anderen Ländern weg.

Hilfe an arme Länder sinkt – auch jene der Schweiz

Zahlreich sind die Länder, die ihre öffentliche Hilfe an Entwicklungsländer gekürzt haben: die nordischen Länder Dänemark, Finnland, Norwegen und Schweden ebenso wie Italien und Grossbritannien im Westen Europas sowie Tschechien und Ungarn in Zentraleuropa. Auch die Schweiz gehört dazu.

Ohne Anrechnung der Asylkosten hat die Schweiz ihre Hilfe um fünf Prozent gekürzt von rund 3,2 auf knapp 3,1 Milliarden Franken. Gemessen am Bruttoinlandprodukt sind das noch 0,40 gegenüber 0,45 Prozent in den Vorjahren. Da die Schweiz gleichzeitig ihre Hilfe an die Ukraine erhöht hat, bleibt erst recht weniger übrig für die anderen Länder mit tiefen und mittleren Einkommen.

Was noch eine Momentaufnahme ist, weitet sich für die nächsten Jahre zum Trend aus. Der Bundesrat beschloss mit den im März präsentierten «Eckwerten der mehrjährigen Finanzbeschlüsse» das Einfrieren des Budgets für internationale Zusammenarbeit bis 2025 und zugleich den Ausbau der Ukraine-Hilfe um 650 Millionen Franken. An der Frühjahrstagung des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank überraschte Aussenminister Ignazio Cassis mit der Ankündigung, für die Ukraine einen separaten Fonds von insgesamt 1,8 Milliarden bis 2028 zu schaffen. Die Hilfe an das kriegsgeschädigte Land wird damit mehr als verdoppelt. Woher die Mittel dafür kommen, darüber schwieg sich Cassis aus. Sie gehen zulasten des Budgets für internationale Zusammenarbeit 2025 bis 2028, stellt Alliance Sud fest. Die durch den Rückzug aus Lateinamerika freiwerdenden Mittel will der Bundesrat offenbar nicht – wie bisher versprochen – nach Afrika und Asien, sondern in die Ukraine umleiten. Die ärmsten Länder sollen nicht das erhalten, was  ihnen mit der geografischen Konzentration der Entwicklungszusammenarbeit in Aussicht gestellt wurde.

Parlament blendet Lage im globalen Süden aus

Der Bundesrat scheint auf den Druck aus dem Parlament zu reagieren. Drei im März eingereichte Motionen von «Die Mitte», GLP und SPS fordern eine deutliche Erhöhung der humanitären Hilfe für die Ukraine. Motionen von Ständerat Mathias Zopfi von den Grünen und  der Aussenpolitischen Kommission des Nationalrats verlangen Unterstützungsprogramme für die Ukraine im Umfang von fünf Milliarden Franken für die nächsten fünf bis zehn Jahre. Woher die Mittel genommen werden und auf wessen Kosten, darüber geben die parlamentarischen Vorstösse wenig Aufschluss.

Dass der Krieg in der Ukraine «auch ein Angriff auf die am meisten gefährdeten Menschen und Länder der Welt» ist, wie UNO-Generalsekretär Antonio Guterres schon im letzten Jahr gewarnt hat, blenden die parlamentarischen Vorstösse aus. Viele Entwicklungsländer befänden sich in einem «perfect storm» mit mehr Hunger und Armut, weniger Bildung und weniger staatlichen Hilfsangeboten, hat Guterres jüngst erneut versucht, die reichen Länder wachzurütteln – doch ohne Erfolg. Auch in den parlamentarischen Vorstössen ist nichts davon zu spüren.

Warum wird zusammen mit den Ukraine-Unterstützungsprogrammen nicht auch mehr Hilfe für die unter wachsender Not leidenden Entwicklungsländer verlangt? Die im globalen Süden vorherrschende Skepsis gegenüber dem Westen würde nicht noch zusätzlich genährt.