Hilfsorganisationen protestieren gegen Hunger und Gewalt in libyschen Flüchtlingslagern. EU-Behörde Frontex begünstigt Aufgreifen und Internierung von Flüchtlingen.

Hilfsorganisationen schlagen wegen der katastrophalen Verhältnisse in libyschen Internierungslagern für Flüchtlinge zum wiederholten Mal Alarm. Médecins sans frontières (Ärzte ohne Grenzen) hat kurz vor der Berliner Libyen-Konferenz mitgeteilt, die ärztliche Versorgung in zwei Lagern in Tripolis wegen des gewalttätigen Vorgehens des Lagerpersonals einstellen zu müssen; in einem der Lager hatten Wächter mit automatischen Waffen auf internierte Flüchtlinge geschossen. Aus einem weiteren Lager wird monatelanger sexueller Missbrauch 16- bis 18-jähriger Frauen gemeldet. Die Lager sind zur Zeit stark überbelegt, weil die von der EU trainierte und ausgerüstete libysche Küstenwache immer mehr Flüchtlinge aufgreift – dank systematischer Zuarbeit der EU-Flüchtlingsabwehrbehörde Frontex. Allein in den ersten sechs Monaten 2021 wurden bereits mehr Migranten von der Küstenwache festgesetzt als im Gesamtjahr 2020. Der Europäische Auswärtige Dienst lobt, die Küstenwache, die unerwünschte Flüchtlinge von der EU fernhält, erziele „exzellente Ergebnisse“. Auf der Libyen-Konferenz spielte die Lage der Flüchtlinge keine Rolle.

Hunger, Enge, Gewalt

Die Hilfsorganisation Médecins sans frontières (MSF, Ärzte ohne Grenzen) schlägt – einmal mehr – wegen der katastrophalen Verhältnisse in libyschen Internierungslagern für Flüchtlinge Alarm. Wie die Organisation berichtet, sind die Lebensbedingungen in den Lagern ohnehin desolat. So erhalten die internierten Flüchtlinge nur eine oder zwei Mahlzeiten pro Tag – „gewöhnlich ein kleines Stück Brot mit Käse oder einen Teller Nudeln, den sich viele teilen müssen“.[1] Mitarbeiter von MSF haben beobachtet, dass manche Lagerinsassen ihren Hunger zuweilen mit Medikamenten zu stillen suchen. Zudem sind die Internierungslager unzulänglich belüftet und haben oft kaum natürliches Licht; verlässlicher Zugang zu sauberem Wasser und zu sanitären Einrichtungen fehlt. Weil die libysche Küstenwache immer mehr Flüchtlinge auf dem Meer aufgreift, sind die Lager mittlerweile dramatisch überfüllt. In manchen von ihnen teilen sich bis zu vier Migranten einen Quadratmeter; das hat zur Folge, dass sie nur in Schichten schlafen können. Die katastrophalen Verhältnisse sowie körperliche Übergriffe des Lagerpersonals führen dazu, die ohnehin stets vorhandenen Spannungen in den Einrichtungen anschwellen zu lassen. Sie entladen sich seit Anfang 2021 zunehmend in Gewalt.

Prellungen, Schnittwunden, Knochenbrüche

So berichtet MSF, am 17. Juni hätten Mitarbeiter der Organisation das Lager Mabani in Tripolis besucht – und mitansehen müssen, wie Flüchtlinge willkürlich verprügelt wurden, wenn sie ihre Zellen zur ärztlichen Visite verlassen wollten. Letztlich konnte MSF 19 Migranten behandeln, die Prellungen, Schnittwunden und Knochenbrüche erlitten hatten. Wie MSF erfuhr, hatte es in der Nacht zuvor heftige Auseinandersetzungen zwischen Flüchtlingen und Wächtern gegeben, die die Internierten zuvor verbal und körperlich misshandelt hatten. Im Lager Mabani seien mindestens 2.000 Menschen eingesperrt, berichtet MSF.[2] Besuche in einem weiteren Lager in Tripolis, Abu Salim, seien ab dem 13. Juni für eine Woche nicht zugelassen worden. MSF fand heraus, dass Wächter dort am 13. Juni mit automatischen Schusswaffen auf Lagerinsassen gefeuert hatten. Die Zahl der Verletzten war beträchtlich. Umso schwerer wog es, dass Ärzte der Hilfsorganisation sieben Tage lang keine Chance erhielten, die Opfer ärztlich zu versorgen. An diesem Dienstag hat MSF angekündigt, wegen der eskalierenden Gewalt und aus Sorge um die Sicherheit der Ärzte Besuche in Mabani und Abu Salim ab sofort bis auf weiteres einstellen zu müssen. Damit bleiben kranke und verletzte Flüchtlinge in den Lagern vorerst unversorgt.

Sexualisierte Gewalt

Gleichzeitig werden neue Berichte über sexuellen Missbrauch in libyschen Internierungslagern bekannt. Demnach werden seit Monaten mehrere junge Frauen aus Somalia im Alter zwischen 16 und 18 Jahren in dem Lager Shara al Zawiya in Tripolis vom Lagerpersonal vergewaltigt. Das Lager ist – wie Mabani oder Abu Salim – eines derjenigen, die das libysche Department for Combating Illegal Immigration (DCIM) betreibt. Dieses wiederum ist unmittelbar dem libyschen Innenministerium unterstellt, mit dem die EU offiziell kooperiert. Menschenrechtsorganisationen versuchen seit Wochen, die Entlassung der jungen Frauen aus dem Lager zu erreichen, haben aber bislang keinen Erfolg.[3] Dabei wird seit Jahren von systematischem sexuellem Missbrauch an Flüchtlingen berichtet. „Sexualisierte Gewalt“ werde „straflos von Menschenhändlern entlang den Migrationsrouten verübt“, aber auch in Polizeigefängnissen und in Internierungslagern, hieß es beispielsweise in einem Bericht der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2019.[4] Menschenrechtler weisen darauf hin, dass in den Lagern zwar meistens Frauen, zuweilen aber auch Männer und Jungen sexualisierter Gewalt ausgesetzt sind.[5]

Mit Hilfe von Frontex

Auf die Berichte über die Vergewaltigung junger Frauen in Shara al Zawiya hat eine Sprecherin der EU-Kommission mit der Forderung reagiert, die Internierungslager müssten „schließen“.[6] Die Forderung steht allerdings in bemerkenswertem Kontrast zu der Tatsache, dass die EU maßgebliche Verantwortung für die stetige, zuletzt sogar rasch zunehmende Internierung von Flüchtlingen in den Lagern trägt. Dies zeigen Recherchen über aktuelle Praktiken der EU-Flüchtlingsabwehrbehörde Frontex. Frontex überwacht das Mittelmeer zwischen Libyen und Italien respektive Malta nicht mit Schiffen, sondern mit Flugzeugen, die Flüchtlingsboote aufspüren, die Flüchtlinge aber natürlich nicht aufnehmen können. Frontex informiert dann sämtliche Seenotleitstellen – die italienische, die maltesische, aber auch die libysche -, woraufhin den Recherchen zufolge die italienischen wie auch die maltesischen Stellen immer wieder untätig bleiben und schließlich die libysche Küstenwache die Flüchtlinge aufgreift. Dies geschieht auch in Gewässern, für die eindeutig die europäische Seite zuständig ist.[7] Von der libyschen Küstenwache zurück nach Libyen an Land gebracht, enden die Flüchtlinge regelmäßig in Internierungslagern, darunter Lager wie Mabani oder Abu Salim.

„Exzellente Ergebnisse“

Dabei ist die libysche Küstenwache immer wieder von der EU unterstützt worden, jüngst etwa im Rahmen eines Pilotprojekts, das die Such- und Rettungsfähigkeiten der Küstenwache systematisch verbessern sollte. In diesem Zusammenhang sind Berichten zufolge mehr als 100 Mitglieder der libyschen General Administration for Coastal Security (GACS) trainiert worden; zudem trägt mittlerweile die Türkei zur Ausbildung sowie zur Ausrüstung der Küstenwache bei.[8] Ein interner Bericht des Europäischen Auswärtigen Diensts stuft die Maßnahmen als äußerst erfolgreich ein: „Die Effektivität der libyschen Küstenwache“, heißt es mit Blick auf die Entwicklung im zweiten Halbjahr 2020, „konnte gesteigert werden und exzellente Ergebnisse erzielen“.[9] In der Tat ist die Zahl der Flüchtlinge, die libysche Küstenwächter von ihren Booten holten sowie zurück nach Libyen brachten, von 9.000 im Jahr 2019 auf fast 12.000 im Jahr 2020 gestiegen; allein zwischen dem 1. Januar und dem 19. Juni dieses Jahres belief sich ihre Anzahl laut Médecins sans frontières bereits auf mehr als 14.000.[10] Die Mitwirkung von Frontex stuft die Völkerrechtlerin Nora Markand von der Universität Münster als „mit dem Völkerrecht unvereinbar“ ein: Es handele sich „im Grunde“ um „Beihilfe zu schwersten Menschenrechtsverletzungen“.[11]

Die zweite Berliner Libyen-Konferenz

Auf der gestrigen zweiten Berliner Libyen-Konferenz spielte die Lage der Flüchtlinge keine Rolle. Die Konferenz beschloss, sämtliche ausländischen Truppen und Söldner müssten umgehend aus Libyen abziehen; zudem müssten die für den 24. Dezember angekündigten Parlaments- und Präsidentenwahlen pünktlich abgehalten werden. Außenminister Heiko Maas feierte die Konferenz als einen Erfolg. Freilich fehlen Berlin – wie schon nach der ersten Libyen-Konferenz vom Januar 2020, die faktisch scheiterte – die Machtmittel, um die Forderungen durchzusetzen. Wie Berliner Experten bestätigen, fungieren bei den verfeindeten Parteien in Libyen als „Sicherheitsgaranten“ in Wirklichkeit nicht Deutschland und die EU, sondern die Türkei und Russland (german-foreign-policy.com berichtete [12]). Daran hat das gestrige Berliner Treffen nichts geändert.

 

Mehr zum Thema: Öl, Lager und Sklaven, Das Meer des Todes sowie unsere Video-Kolumne EU – eine Werteunion?

 

[1], [2] Ongoing violence against detained migrants forces MSF to suspend Tripoli detention centre activities. msf.org 22.06.2021.

[3] Minors accuse guards at Libya detention centre of sexual assault. aljazeera.com 20.06.2021.

[4], [5] Women migrants reduced to sex slaves in Libya ‚hell‘. euractiv.com 23.06.2021.

[6] Nikolaj Nielsen: Libyan detention centres must end, EU says. euobserver.com 22.06.2021.

[7] Shafagh Laghai, Lara Straatmann: Tödliche Kollaboration. tagesschau.de 29.04.2021.

[8] Nikolaj Nielsen: Libyan detention centres must end, EU says. euobserver.com 22.06.2021.

[9] Shafagh Laghai, Lara Straatmann: Tödliche Kollaboration. tagesschau.de 29.04.2021.

[10] Ongoing violence against detained migrants forces MSF to suspend Tripoli detention centre activities. msf.org 22.06.2021.

[11] Shafagh Laghai, Lara Straatmann: Tödliche Kollaboration. tagesschau.de 29.04.2021.

[12] S. dazu Die zweite Berliner Libyen-Konferenz.

Der Originalartikel kann hier besucht werden