Am 4. Juli findet in Santiago de Chile die erste Sitzung des im Mai gewählten Verfassungskonvents statt. Es ist weltweit das erste verfassunggebende Gremium, das zu gleichen Teilen mit Männern und Frauen besetzt wird. Außerdem sind die indigenen Gemeinschaften repräsentiert. Die 155 Mitglieder des Konvents haben von nun an maximal ein Jahr Zeit, einen neuen Verfassungstext auszuarbeiten.

Bei den Wahlen für den Verfassungskonvent hatten vor allem Parteiunabhängige für große Überraschungen gesorgt. Die etablierten Parteien, allen voran die rechten Regierungsparteien, blieben deutlich hinter ihren Erwartungen zurück. Die rechte Einheitsliste Vamos por Chile erreichte das für eine Sperrminorität nötige Drittel der Sitze wider aller Erwartungen und Prognosen nicht. Stattdessen sind zahlreiche Vertreter*innen der sozialen Bewegungen, die die breiten gesellschaftlichen Proteste seit Oktober 2019 mitgetragen hatten, in den Konvent gewählt worden.

Eine der 155 Delegierten des Konvents: Natividad Llanquileo

Die Anwältin Natividad Llanquileo war die erste Kandidatin, deren Wahl in den Verfassungskonvent am Abend des 16. Mai feststand. Sie hatte für einen der 17 für die indigenen Gemeinschaften reservierten Sitze kandidiert, darunter sind sieben für die Mapuche. Llanquileo engagiert sich seit Jahren für die Rechte der Indigenen und wurde vor allem als Sprecherin der inhaftierten Mapuche im Hungerstreik bekannt. Ihre Wahl sei „ein historisches Ereignis. Denn wir schreiben nicht einfach eine neue Verfassung. Es geht um Partizipation: Darum, dass das Gremium, das sie ausarbeitet, paritätisch besetzt wird. Und, dass indigene Gemeinschaften an diesen wichtigen Entscheidungen teilhaben“, so Llanquileo gegenüber dem NPLA.

Für Llanquileo stehen die wichtigsten Themen im Verfassungskonvent schon lange fest: Chile solle in der neuen Verfassung als plurinationaler Staat festgeschrieben werden, um alle indigenen Gemeinschaften und ihre kollektiven Rechte anzuerkennen. Um Mensch und Natur zu schützen, sei ein Wandel des Wirtschaftssystems und eine Abkehr vom Neoliberalismus unabdingbar. Soziale Rechte wie das auf Gesundheit, Bildung, Wohnen und den Zugang zu Wasser müssten garantiert und um weitere ergänzt werden. Schließlich sei auch eine Dezentralisierung der Machtstrukturen und eine breite Partizipation der Bevölkerung entscheidend, so die Anwältin.

Schon die ersten Sitzungen des Konvents werden spannend

Inwiefern diese radikalen Forderungen im Verfassungskonvent zu konkreten Beschlüssen werden, bleibt abzuwarten. Denn obwohl der Erfolg progressiver Kräfte bei der Wahl Hoffnung mache, bleibe sie nur verhalten optimistisch, so Natividad Llanquileo: „Es reicht nicht, dass die Rechte ihr Drittel im Verfassungskonvent nicht bekommen hat. Erst in der Praxis wird sich zeigen, wer mit ihnen verhandelt und wer nicht.“ Insbesondere die Rolle der Mitte-Links-Parteien sei entscheidend.

Damals sprecherin der hungerstreikenden Mapuche, heute Delegierte im Verfassungskonvent: Die Anwältin Natividad Llanquileo / Foto: Öffentliche Domäne (CC0 1.0)

Schon in der ersten Sitzung des Konvents wird es spannend, denn dann soll ein*e Präsident*in und Vize gewählt werden. „Viele sind sich einig, dass dieser Vorsitz rotieren sollte. Wie der gesamte Konvent soll er paritätisch besetzt werden und auch die indigenen Gemeinschaften repräsentieren“, so Llanquileo.

„Wir können doch nicht diejenigen im Stich lassen, die uns bis hierhin gebracht haben“

Die Anwältin hat sich mit über 40 weiteren Delegierten zur Vocería de los Pueblos (etwa: „Sprachrohr der Völker“) zusammengeschlossen. Gemeinsam wollen sie radikale Forderungen in den Verfassungskonvent einbringen und dabei die aktuelle Situation im Land nicht außen vorlassen. Dazu gehört etwa die Forderung nach der Freilassung der politischen Gefangenen. Seit Beginn den massiven Protesten im Oktober 2019 sitzen Hunderte Protestierende in (Untersuchungs-)Haft oder stehen unter Hausarrest. „Wir können doch nicht diejenigen im Stich lassen, die uns bis hierhin gebracht haben“, meint Llanquileo. Denn dass es überhaupt einen verfassunggebenden Prozess gibt, sei eine Errungenschaft der Straßenproteste.

Gleichzeitig will die Vocería de los Pueblos auch die Regelungen hinterfragen, denen der Verfassungskonvent derzeit folgt. Am 15. November 2019 hatten nahezu alle politischen Parteien über den Weg hin zu einer neuen Verfassung entschieden. „Das waren Verhandlungen hinter verschlossenen Türen. Es ging einzig und allein darum, den Präsidenten aus der Krise zu retten“, meint Llanquileo.

In diesem Kontext ist insbesondere die Ausarbeitung der Geschäftsordnung des Verfassungskonvents von Bedeutung: „Für die abschließende Abstimmung über den neuen Verfassungstext im Konvent ist eine Zweidrittelmehrheit nötig. Für alles weitere aber, also die Arbeit in den Kommissionen und Arbeitsgruppen, ist auch ein anderes Quorum denkbar, etwa eine einfache Mehrheit.“ Nun müssten die Delegierten den bestehenden Spielraum nutzen und die Menschen mit einbeziehen.

„Ein demokratischer Prozess, der demokratisch verteidigt werden muss“

In den nächsten Monaten wird sich auch zeigen, mit welchen Strategien die politische Rechte versucht, ihre Machtposition zu verteidigen. Schließlich haben viele ihrer Delegierten beim Referendum im Oktober 2020 gegen die Ausarbeitung einer neuen Verfassung gestimmt. Grundlegender Wandel hin zu einer Abkehr vom Neoliberalismus würde für viele aus der konservativen Rechten, die selbst Unternehmer*innen sind oder intensive Beziehungen zu ihnen pflegen, Verluste bedeuten. Für Llanquileo bedeutet das, weiterhin wachsam zu sein: „Immer, wenn es in Chile darum ging, Macht oder ein Wirtschaftssystem zu erhalten, dann kommen das Militär und die Manipulation der Medien ins Spiel.“ So mahnt die Anwältin: „Dieser Prozess ist demokratisch errungen worden. Und diese Demokratie müssen wir verteidigen.“

Der Blick auf die Arbeit des Verfassungskonvents bleibt also spannend. In neun, maximal zwölf Monaten muss sich das Gremium auf einen neuen Verfassungstext geeinigt haben. In einem zweiten Referendum im kommenden Jahr kann die chilenische Bevölkerung diesen dann mit einfacher Mehrheit annehmen. Die neue Verfassung würde dann die alte aus Zeiten der chilenischen Militärdiktatur (1973-1990) ablösen, die damals ohne demokratische Beteiligung entstanden war. Für Llanquileo ist eines klar: „Diese Verfassung muss die Menschen repräsentieren – wenn sie das nicht tut, wird sie scheitern.“

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