Die Bundesrepublik setzt Sammelabschiebungen nach Afghanistan fort. Afghanischen Ortskräften der Bundeswehr, die Zuflucht suchen, legt sie Steine in den Weg.

Trotz Warnungen und Protesten hat die Bundesrepublik am gestrigen Mittwoch ihre 39. Sammelabschiebung von Flüchtlingen in das afghanische Kriegsgebiet abgeschlossen. 42 Afghanen mussten in Kabul das Abschiebeflugzeug verlassen. Damit erhöht sich die Zahl der Personen, die seit Ende 2016 per Sammelabschiebung an den Hindukusch gebracht wurden, auf 1.077. Aus Europa insgesamt wurden in dieser Zeit weit mehr als 10.000 Flüchtlinge zwangsweise in ihr Herkunftsland geflogen. Hinzu kommen mehrere zehntausend aus der Türkei abgeschobene Afghanen. Vereinbarungen über die Sammelabschiebungen wurden der Regierung in Kabul mit erpresserischen Methoden aufgenötigt. Die Abschiebungen finden statt, obwohl aus Europa heimgekehrte Flüchtlinge laut einer aktuellen Untersuchung stark erhöhter Gewalt ausgesetzt sind. Umgekehrt legt die Bundesregierung afghanischen Mitarbeitern der Bundeswehr, die nach deren Abzug um Leib und Leben fürchten und deshalb in Deutschland Zuflucht wünschen, trotz offizieller Aufnahmebereitschaft Steine in den Weg. Charterflüge gehen nur in eine Richtung – zur Abschiebung nach Afghanistan.

Zehntausende Abschiebungen

Die Sammelabschiebung von 42 afghanischen Flüchtlingen, die gestern früh am Flughafen Kabul eintrafen – „um 7.48 Uhr (Ortszeit)“, wie Behördenvertreter mit bemerkenswerter Präzision mitteilen -, war bereits die 39. ihrer Art seit dem Jahr 2016. Insgesamt sind bei ihnen mittlerweile 1.077 Personen zwangsweise aus der Bundesrepublik nach Afghanistan gebracht worden. Die Sammelabschiebungen werden seit Dezember im Monatsabstand durchgeführt; eine nächste steht demnach vermutlich im Juli bevor. Lediglich im Mai war der zunächst geplante Flug kurzfristig ausgesetzt worden, weil die Frist für den Abzug der US-Truppen, die Washington mit den Taliban ausgehandelt hatte, Anfang Mai ablief und verstärkte Anschläge der Taliban befürchtet wurden. Abschiebungen werden auch aus anderen Staaten Europas durchgeführt; die Gesamtzahl wird für 2016 mit 2.323, für 2017 mit 3.847, für 2018 mit 2.805 und für 2019 mit 1.445 angegeben.[1] Hinzu kommen Abschiebungen von Afghanen aus der Türkei, die weitgehend eine Folge des EU-Flüchtlingsabwehrpakts mit Ankara sind – die wenigsten afghanischen Flüchtlinge wollen in der Türkei bleiben. Die türkischen Behörden schoben im Jahr 2019 rund 23.780 Flüchtlinge nach Afghanistan ab, im Pandemiejahr 2020 immer noch rund 6.000.[2]

„Nachhaltig“, „individuelle Bedürfnisse“

Grundlage für die Abschiebungen aus der EU sind penibel formulierte Vereinbarungen, deren jüngste – die Joint Declaration on Migration Cooperation – erst vor kurzem, am 26. April 2021, unterzeichnet wurde. Ihr Vorläufer – der sogenannte Joint Way Forward – war im Oktober 2016 in Kraft getreten. Das damalige Dokument hatte Afghanistan verpflichtet, abgeschobene Bürger umstandslos ins Land zu lassen und bei den Vorbereitungen, etwa bei der Beschaffung der notwendigen Dokumente, eng und nnerhalb festgelegter Fristen mit der EU zu kooperieren. Die neue Joint Declaration schließt im Wesentlichen daran an und präzisiert einige Regeln: So dürfen künftig pro Flug maximal 50 abgeschobene Afghanen ins Land gebracht werden, die Gesamtzahl wird auf 500 pro Monat beschränkt.[3] Die EU preist die neue Vereinbarung – wie üblich – in höchsten Tönen. So heißt es, sie setze „die positive Kooperation zwischen Afghanistan und der EU“, die mit dem Joint Way Forward eingeleitet worden sei, fort; zudem ziele sie darauf ab, „die nachhaltige Reintegration von Menschen zu ermöglichen, die nach Afghanistan zurückkehren“, indem „deren individuelle Bedürfnisse“, aber zugleich auch „die Bedürfnisse der Gast- und Rückkehrgemeinschaften ins Zentrum gestellt“ würden.[4]

Die Druckmittel der EU

In Wirklichkeit basieren die Abschiebevereinbarungen mit Afghanistan auf Erpressung, und sie stürzen die Abgeschobenen in aller Regel in eine desaströse, oft lebensgefährliche Situation. Die Regierung in Kabul sieht sich ohnehin mit der erzwungenen Rückkehr einer riesigen Zahl an Flüchtlingen aus Pakistan und aus Iran konfrontiert; beide Nachbarländer, ungleich ärmer als die EU, Iran zusätzlich durch brutale US-Sanktionen schwer belastet, beherbergen jeweils mehrere Millionen afghanische Flüchtlinge. Pakistan schob zuletzt pro Jahr zwischen 31.594 (2019) und 618.156 (2016) Flüchtlinge nach Afghanistan ab, Iran zwischen 442.668 (2017) und 775.089 (2018). Weil ihre Integration faktisch unmöglich ist, sperrte sich die Regierung in Kabul bereits während der Verhandlungen um den Joint Way Forward gegen die Forderung der EU, jetzt auch noch zusätzlich Flüchtlinge aus dem reichen Europa zurücknehmen zu sollen. Brüssel nutzte ausweislich eines internen Dokuments Verhandlungen über umfangreiche finanzielle Hilfen für Afghanistan als „EU-Druckmittel“; demnach sollte eine Geberkonferenz im Oktober 2016 ausdrücklich „als positiver Anreiz zur Implementierung des Joint Way Forward“ dienen.[5] Der Plan ging auf.

Besonders von Gewalt betroffen

Abgeschobene Flüchtlinge geraten in Kabul in aller Regel in eine katastrophale Lage. Dies liegt nicht nur am allgemein desaströsen Zustand Afghanistans – das Land ist nach annähernd 20 Jahren westlicher Militärpräsenz mehr denn je von Gewalt, Armut und Hunger geplagt (german-foreign-policy.com berichtete [6]). Es kommt hinzu, dass aus Europa abgeschobene Flüchtlinge stärker als andere Bevölkerungsgruppen gefährdet sind. Das zeigt eine an der Universität Bern erarbeitete, zu Monatsbeginn publizierte Studie, die das Schicksal von 113 aus Deutschland abgeschobenen Afghanen detailliert untersucht.[7] Demnach haben „über 90 Prozent der Abgeschobenen nach der Rückkehr“ nach Afghanistan „Gewalterfahrungen gemacht“; mehr als 50 Prozent derjenigen, die „länger als zwei Monate im Land waren“, waren dabei „wegen ihres Aufenthalts in Europa von Gewalt gegen sie oder ihre Familien betroffen“. Die Ursachen variieren der Studie zufolge: Sie reichen von Vergeltung für nicht zurückgezahlte Schulden, die für die kostspielige Flucht aufgenommen wurden, bis zur Bestrafung vermeintlicher Normverletzungen in Europa; zudem steigert die – irrtümliche – „Annahme, dass Europa-Rückkehrer wohlhabend seien, … das Risiko krimineller Übergriffe, zu denen auch Erpressungen und Schutzgeldforderungen“ zählen.

Furcht um Leib und Leben

Während die Bundesrepublik rücksichtslos abschiebt, droht der beschleunigte Rückzug der Bundeswehr – inzwischen ist von der Heimkehr der letzten deutschen Soldaten bis Ende Juli die Rede – zahlreiche afghanische Mitarbeiter der deutschen Streitkräfte in tödliche Gefahr zu stürzen. Diese fürchten, da sie von den Taliban als Kollaborateure des auswärtigen Feindes betrachtet werden, für die Zeit nach dem Abzug der westlichen Truppen um Leib und Leben. Nach Angaben aus den USA sind in Afghanistan seit Beginn der westlichen Militärintervention bereits mehr als 300 „Ortskräfte“ gezielt getötet worden.[8] Erst am Dienstag hat der Angriff auf ein Camp des Minenräumprojekts The HALO Trust, das besonderen Wert auf die Einbindung einheimischen Personals legt und vom Auswärtigen Amt als „einer der wichtigsten Partner“ eingestuft wird, zehn Todesopfer und 16 Verletzte gefordert. Schon im April hatte Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer angekündigt, man wolle die afghanischen Ortskräfte der Bundeswehr „nicht schutzlos zurücklassen“: Hätten sie berechtigte Furcht vor den Taliban, dann werde man ihnen die Einreise nach Deutschland erlauben.[9] Dies gelte für alle, die in den vergangenen zwei Jahren offizielle Mitarbeiter der Bundeswehr gewesen seien.

Steine in den Weg gelegt

In der Praxis stoßen die Ortskräfte auf erhebliche Komplikationen. So müssen sie überzeugend nachweisen, dass sie eindeutig aufgrund ihrer Tätigkeit für die Bundeswehr bedroht sind – in einem Kriegsgebiet kein einfaches Unterfangen. Gelingt es ihnen, den Nachweis zu führen und eine Einreiseerlaubnis zu erhalten – 380 von 520 Beschäftigten der Bundeswehr in den vergangenen zwei Jahren haben das inzwischen geschafft -, dann müssen sie ihren Flug selbst bezahlen: faktisch die zweite schwer zu überwindende Hürde. Zudem weigert Berlin sich weiterhin, Ortskräften die Einreise zu erlauben, die vor mehr als zwei Jahren für die Bundeswehr tätig gewesen sind. Darüber hinaus gilt das Angebot nicht für Personen, die als Angestellte von Privatunternehmen für die Bundeswehr gearbeitet haben.[10] Die Bundesregierung verweigert eine unbürokratische Lösung. Wegen des überhasteten Abzugs fürchten nun viele Ortskräfte, das Land nicht rechtzeitig verlassen zu können – im Unterschied zu den Waffen und zum Wehrmaterial, um deren Abtransport sich die Bundeswehr fleißig kümmert. Anders als für Sammelabschiebungen an den Hindukusch stellt Berlin für bedrohte afghanische Ortskräfte bislang keinerlei Charterflüge bereit.

 

[1] Marissa Quie, Hameed Hakimi: The EU and the politics of migration management in Afghanistan. Chatham House Research Paper. London, November 2020.

[2] UNHCR Statistical Factsheet: Onward Movements of Afghan Refugees. March-April 2021.

[3] Mojib Rahman Atal: The Asymmetrical EU-Afghanistan Cooperation on Migration. thediplomat.com 12.05.2021.

[4] Migration: The EU signs a Joint Declaration on cooperation with Afghanistan. eeas.europa.eu 26.04.2021.

[5] Country Fiche proposing possible leverages across Commission-EEAS policy areas to enhance returns and effectively implement readmission commitments. Brussels, 2 March 2016. statewatch.org.

[6] S. dazu Bilanz von 18 Jahren.

[7] Friederike Stahlmann: Erfahrungen und Perspektiven abgeschobener Afghanen im Kontext aktueller politischer und wirtschaftlicher Entwicklungen Afghanistans. Herausgegeben von Diakonie Deutschland, Brot für die Welt, Diakonie Hessen. Berlin, Juni 2021.

[8] Joachim Käppner: „Sie fürchten um ihre Sicherheit und ihr Leben“. sueddeutsche.de 14.05.2021.

[9] Kramp-Karrenbauer will afghanische Mitarbeiter nach Deutschland holen. sueddeutsche.de 21.04.2021.

[10] Afghanistan: Großteil der Ortskräfte will nach Deutschland. sueddeutsche.de 18.05.2021.

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