Der Verkauf seines Gewehrs bringt einem Soldaten so viel, wie er in mehreren Monaten verdient.

Christa Dettwiler für die Online-Zeitung INFOsperber

In einer gross angelegten Recherche aus Afghanistan berichten New York Times- Reporter über die Folgen des für den 11. September geplanten Abzugs der US-Truppen. Die afghanischen Sicherheitskräfte befürchten, dass sich viele Gebiete, die jetzt noch unter Regierungskontrolle stehen, nicht gegen die Taliban verteidigen lassen. Denn es fehlt nicht nur an ausgebildetem Personal, es fehlt auch an Ausrüstung und an Moral.

70 Milliarden Dollar für einen desolaten Zustand

Seit annähernd zwei Jahrzehnten sind die USA und die NATO in die Nationenbildung in Afghanistan involviert. Die USA hofften einmal, Leute auszubilden und auszurüsten, die das Land nach einem generationenlangen Krieg aufbauen und befrieden könnten. Vor allem das ländliche Afghanistan sollte dank den neu ausgebildeten Kräften gemeinsam mit den westlichen stabilisiert werden, bevor der Abzug beginnt. Dazu wurden in Afghanistan Hunderttausende Männer und eine Handvoll Frauen rekrutiert, ausgebildet und ausgerüstet. Die USA haben für diese «Nationenbildung» («Nation-building») mehr als 70 Milliarden Dollar investiert. Aber angesichts des desolaten Zustandes der einheimischen Kräfte ist es nicht nachvollziehbar, wohin das Geld geflossen ist.

Offensichtlich wurden die Ressourcen sehr ungleich und oft zufällig eingesetzt. Ein Hindernis war auch das tiefe Misstrauen gegenüber den Einheimischen. So wurden afghanische Soldaten und Polizisten als zweitrangig betrachtet und auch so behandelt. Während westliche Opfer von Bombenanschlägen und Gefechten die beste Trauma-Behandlung erhielten, mussten die Afghanen mit minderwertigen medizinischen Einrichtungen und Behandlungen Vorlieb nehmen. Auch war die Entlöhnung derart tief, dass ein Gewehr mehrere Monatslöhne wert war. Es lohnte sich, das Gewehr zu verkaufen.

Kommandanten müssen ihre eigenen Scharfschützengewehre kaufen. Luftunterstützung ist mangelhaft und sporadisch. Von den versprochenen Humvees ist nur ein Bruchteil vorhanden, die Munition knapp. Zudem gibt es kaum Offiziere, weil die Löhne tief, die Risiken hoch und viele Führungskräfte korrupt sind. Spezialausrüstungen wie Nachtsichtgeräte fehlen, nicht zuletzt, weil das Pentagon die Lieferung ausgesetzt hat, nachdem solche wertvollen Geräte verloren gingen, gestohlen oder verkauft wurden.

Die Moral der Truppen ist am Boden

Auf dem Papier verzeichnen die afghanischen Sicherheitskräfte mehr als 300 000 Mitglieder. Die tatsächliche Zahl liegt um einiges tiefer. So geben gewisse Polizeieinheiten bewusst höhere Zahlen an, um die Saläre von getöteten oder absenten Personen selbst einzusacken. Ein wichtiges Armeekorps, das 16 000 Männer und Frauen stark sein sollte, umfasst gerade einmal die Hälfte.

Auch die Rekrutierung ist stark zurückgegangen, die Moral der Truppen ist am Boden. Sie klagen über mangelnde Unterstützung und mangelnde Ausrüstung. Viele verlieren die Hoffnung und scheiden aus dem Dienst aus. Das geht sogar so weit, dass sich einzelne Polizei-Aussenposten schlicht auflösen oder sogar an die Taliban verkauft werden.

Schon jetzt, vor dem Abzug der internationalen Truppen, kontrollieren die Taliban grosse Teile des Landes. Die einheimischen Truppen gelten als korrupt, Waffen verschwinden, viele stehen unter Dauerbeschuss. Allerdings haben diese Truppen auch enorme Verluste erlitten. Rund 66 000 afghanische Soldaten wurden seit 2001 getötet, verglichen mit etwas mehr als 3 500 Soldaten der von den USA angeführten Koalition. Die Zahl der getöteten Zivilisten ist um einiges höher.

Es ist nur folgerichtig, dass die afghanischen Kräfte mit der Aufrechterhaltung der weitverzweigten und mit westlichem Geld eingerichteten Stützpunkten überfordert sind. Es mangelt ihnen an logistischen Kapazitäten, an Unterstützung und an Moral. Das nützten die Taliban aus, um ein Gebiet nach dem anderen Gebiet unter ihre Kontrolle zu bringen. Ihnen gegenüber steht ein Sicherheitsapparat, der nur dank internationalem Geld und US-Unterstützung aufrechterhalten wird.

Wichtige Armeestützpunkte im Süden des Landes sind von Taliban-Kämpfern umzingelt und können nur via Helikopter versorgt werden. Soldaten in der Helmand-Provinz versuchten mit den Taliban über einen friedlichen Abzug zu verhandeln. Die Taliban weigerten sich, die Soldaten gehen zu lassen, wenn sie nicht ihre Ausrüstung und ihre Waffen zurückliessen. Währenddessen steigt die Zahl der Opfer unter den Afghanischen Kräften dramatisch. Laut konservativen Schätzungen des Times’ Opferreport sterben Monat für Monat gegen 500 Sicherheitskräfte oder werden verwundet – durch Bomben, Feuergefechte, Hinterhalte oder Insider-Tötungen. Offizielle Zahlen gibt es keine.

Das Vakuum, welches die Schwäche der Sicherheitskräfte hinterlässt, hat Milizen Aufschwung verliehen, welche die Regierung oder regionale Fraktionen einsetzen mussten. Die Befürchtung ist gross, dass sich diese Milizen gegen die Regierung wenden oder Militär- und Polizeiangehörige rekrutieren könnten, so dass die Machtverteilung entlang ethnischer und politischer Linien wieder verstärkt würde.

Angesichts der gewaltigen Probleme klingen die Worte von General Yasin Zia, Stabschef der Armee und amtierender Verteidigungsminister, gegenüber der «New York Times» doch eher hilflos: „Wir werden einen Weg finden zu überleben.“